Abschied vom Vertrauten

Trier · Vor der Abendkasse stauten sich die Kurzentschlossenen. Als dann die Vorstellung mit etlichen Minuten Verspätung begann, war das Trierer Theater mit knapp 300 Personen immerhin zur Hälfte besetzt. Die erlebten mit Peter Konwitschnys "Falsche Welt, ich trau dir nicht" eine polarisierende Inszenierung, abstoßend und faszinierend zugleich.

 Szene im Altenheim: Jacek Strauch, Christiane Bösiger, Hans Schöpflin (liegend) und Cornelia Kallisch (Boild links/von links) kämpfen mit Rollstühlen, während Christel Elisabeth Smith (Bild rechts) ihre Probleme bei der Morgentoilette hat. Fotos (2): Peter de Jong

Szene im Altenheim: Jacek Strauch, Christiane Bösiger, Hans Schöpflin (liegend) und Cornelia Kallisch (Boild links/von links) kämpfen mit Rollstühlen, während Christel Elisabeth Smith (Bild rechts) ihre Probleme bei der Morgentoilette hat. Fotos (2): Peter de Jong

Foto: Peter de Jong (g_kultur

Trier. Was für eine Produktion! Schrill, irritierend, abstoßend, stellenweise deprimierend. Und zugleich schlüssig, reflektierend, emotional bewegend und mit tiefer Hingabe an Bachs große Musik. Regisseur Peter Konwitschny hat den Bach-Kantaten "Falsche Welt, dir trau ich nicht" (Nr. 52), "Mein Herze schwimmt im Blut" (Nr. 199) und "Ach wie flüchtig" (Nr. 26) einen neuen Tonfall gegeben.
Bizarre Dramatik

Abschied vom Vertrauten
Foto: Peter de Jong (g_kultur


Er hat Bachs Musik den Schein des Vertrauten genommen und mit sicherem Gespür ihre bizarre Dramatik wiederentdeckt. Die abrupten Unterbrechungen in der Orchester-Einleitung zur Kantate 52, die aus dem 1. Brandenburgischen Konzert wohlbekannt ist - diese Unterbrechungen signalisieren den Abstand, den die Regie zu bequemer Gleichförmigkeit bezieht.
Und die Probleme mit der Morgentoilette, die die vorzügliche Sopranistin Christel Elisabeth Smith mit ihrer Garderobe demonstrierte, sie spiegeln in einem ganz weltlichen Bereich die Unsicherheit wider, die Bach in der ersten Arie ("Immerhin") so faszinierend mitkomponiert.
In Konwitschnys szenischen Verfremdungen zeichnet sich ein ganz eigenes Bach-Bild ab - ungewohnt für viele, aber nachvollziehbar. Wenn ein vierköpfiges Vokalensemble mit Sopranistin Christiane Bösiger, Altistin Cornelia Kallisch, Tenor Hans Schöp flin und Bass Jacek Strauch in Kantate 26 mit Rollstühlen und Altenpflegern auftritt und alle Gefühle zwischen grundloser Heiterkeit, Erschöpfung, Wut und Verzweiflung ausspielt, dann klingt in der Szenerie auch ein Ausdruck der Todesnähe an, die Bach und sein unbekannter Textdichter so anschaulich beschwören. Und der erklärte Atheist Konwitschny unterschlägt dabei auch nicht das gottesnahe Bekenntnis in der letzten Choralstrophe.
Am schwierigsten gestaltete sich für viele im Publikum die Umsetzung von Kantate 199. Eine Bordellszene mit höchst zweifelhaftem Besuch und das zu Bachs Musik - das ist hart! Aber wenn die herrlich ausdrucksreiche Sopranistin Christiane Boesinger als Prostituierte widerwillig ihr professionelles Geschäft betreibt, dann kehrt in der Szenerie die erstaunliche Drastik der Komposition wieder - die ungemein bizarre Harmonik, der unvermittelte Wechsel zwischen trauernd depressiver Arie und sperrigem Rezitativ. Es ist das Expressionistische im Barock. Da setzt Konwitschny in Szene, was Bachs Musik wirklich vermochte: auf höchstem kompositorischen Niveau Ekel, Schmutz, Elend und Niedrigkeit eine Stimme zu geben. So, wie es nach ihm nur noch Alban Berg gelang.
Musikalisch ist diese Produktion ein echter Glücksfall, und das nicht nur bei den Sängerinnen und Sängern. Mehrfach fragten Besucher sich und andere, ob im Graben wirklich die Trierer Philharmoniker spielten. Sie taten es.
Und Dirigent Michael Hofstetter vermittelte dem klein besetzten Orchester eine Energie, geschlossen und solistische Präsenz des Musizierens, wie es sie bei Alter Musik mit dem Philharmonikern noch nicht gegeben hat.
Beim Schlussapplaus sprang ein Großteil der Besucher auf. Andere wieder blieben nachdenklich auf ihren Plätzen. Offene Missfallensbekundungen gab es nicht. Selbstverständlich ist die Stellung zur dieser Regie persönliche Angelegenheit. Trotzdem: Der Besuch lohnt - allein schon wegen der Musik!
Weitere Vorstellung am Mittwoch, 15. Juni, 19.30 Uhr im
Trierer Theater

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