Als Hollywood neu war

Trier · Die Oscars gelten als Adelstitel der Filmszene - und als Garant für hohe Zuschauerzahlen. Die sind dringend nötig, denn 2010 ging die Zahl der Kinobesuche um 17 Prozent zurück. Kein Wunder bei Filmen, die das Werk von Marktforschern sind. Dass es auch anders geht, demonstrierte New Hollywood vor 40 Jahren.

Veränderung beginnt mit Verzweiflung. Und die war groß im Hollywood der späten 60er. Das Publikum hatte sich sattgesehen an der Fließbandkost der großen Studios. Die bewährten Rezepte - leichte Alltagskomödien, opulente Western und überzuckerte Musicals - funktionierten nicht mehr. Wer die Bilder aus Vietnam sah, der mochte nicht mehr glauben, dass John Wayne die Sache schon richten würde. Schon gar nicht im eigenen Land, in dessen innerstädtischen Dschungeln es auch nicht viel friedlicher zuging als in denen Indochinas. Minderheiten muckten auf. Die Bürgerrechtsbewegung entdeckte die Straße; die Nationalgarde Tränengas und scharfe Munition. Revolution lag in der Luft.

Auch in den Schlafzimmern. Die hygienische Pyjama-Erotik einer Doris Day hatte ihren Reiz verloren, galt als verlogen - lieber Bettgestöhne als "Bettgeflüster"! Die "älteste Jungfrau der Welt" war zum Kassengift geworden. So wie die anderen Biedermeier-Stars, die keiner mehr sehen mochte. Mit jedem Flop wuchs die Verzweiflung der Hollywoodbosse. Man brauchte eine neue Erfolgsformel. Dringend. Sofort. Und Regisseure wie Arthur Penn, Mike Nichols, Robert Altman, Peter Bogdanovich, Francis Ford Coppola und Martin Scorsese lieferten sie.

Ausgerechnet Regisseure! Ein Berufsstand, der bis dato (von Ausnahmen wie Alfred Hitchcock, John Ford und Billy Wilder abgesehen) als Erfüllungsgehilfe der Produzenten fungierte. Regisseure waren Aufseher, die dafür bezahlt wurden, die Stars in Schach zu halten, während sie das Drehbuch abarbeiteten.

Das änderte sich nun. Mit einem Mal wurden Regisseure selber zu Stars. Sie drückten dem Film ihren Stempel auf, indem sie ein Amerika zeigten, wie man es nie zuvor im Kino gesehen hatte.

Ein Paradebeispiel hierfür ist William Friedkins "French Connection", fünffacher Oscar-Gewinner 1971 und einer der Klassiker des New Hollywood. Friedkin präsentiert ein New York, in dem man nicht Urlaub machen möchte. Es ist dreckig, schäbig, heruntergekommen. Doch noch schmutziger sind die Menschen, die dort leben. Sie sind von Gier, Lust und Rache getrieben. Und wir reden hier nicht von den Bösen, sondern von den Guten, die auf der Jagd nach den Bösen diesen immer ähnlicher werden. Gene Hackman spielt den "Bad Cop", dem bei der Verbrechensbekämpfung jedes Mittel recht ist und der am Ende dennoch miterleben muss, wie die Gejagten davonkommen.

Denn ein Happy End - die Bösen wandern ins Gefängnis, die Liebe triumphiert - ist im New Hollywood nicht vorgesehen. Die meisten Werke enden auf einer traurigen oder tristen Note. In Martin Scorseses Erstling "Wer klopft denn da an meine Tür" vergrault Harvey Keitel seine große Liebe, in Bob Rafelsons "Ein Mann sucht sich selbst" lässt Jack Nicholson seine schwangere Freundin sitzen, und in John Schlesingers "Asphalt-Cowboy" geht Dustin Hoffman vor die Hunde. Dem Erfolg tat dies keinen Abbruch. Der Neorealismus jener Jahre traf den Zeitgeist punktgenau. Bis zwei New-Hollywood-Regisseure etwas Neues ausprobierten: Statt realer Menschen übernahmen weiße Haie und Jedi-Ritter die Hauptrolle. Aber das ist eine andere Geschichte, die des Blockbusters.

Hintergrund

Als GeburtsfilmedesNew Hollywood gelten "Bonnie & Clyde" und "Die Reifeprüfung" aus dem Jahr 1967. Das Neue daran war die ungeschönte Darstellung der Wirklichkeit: reale Menschen, reale Gewalt, reale Beziehungen. Mit dem Aufkommen der Blockbuster in den späten 70ern endete diese gesellschaftskritische Phase. Sie gilt als eine der künstlerisch bedeutendsten des US-Films. Zum Weiterschauen: Fünf Klassiker des New Hollywood: "Easy Rider" (1969), "Die letzte Vorstellung" (1971), "Harold & Maude" (1972), "Nashville" (1975), "Taxi Driver" (1976) Zum Weiterlesen: Peter Biskind: Easy Riders, Raging Bulls. Wie die Sex, Drugs & Rock 'n' Roll-Generation Hollywood rettete (engl. Ausgabe), Bloomsbury, 512 Seiten, 12,95 Euro, ISBN-13: 978-3453877856 (jör)

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