An allem ist die Amme schuld

Luxemburg · 136 Jahre nach ihrer Uraufführung sind "The Pirates of Penzance" von Gilbert &Sullivan immer noch ein Renner - im englischsprachigen Raum. Außerhalb davon sind die Operetten des viktorianischen Autorengespanns eher unbekannt. Intendant Tom Leick-Burns hat jetzt eine Inszenierung der English National Opera ans Grand Théâtre geholt. An der Koproduktion ist auch das Saarländische Staatstheater beteiligt

 Die wilde Piratenschar – in der oberen Reihe mit Totenkopfhut ihr Anführer (Joshua Bloom) – wird ganz handzahm beim Anblick ...

Die wilde Piratenschar – in der oberen Reihe mit Totenkopfhut ihr Anführer (Joshua Bloom) – wird ganz handzahm beim Anblick ...

Foto: ©Tristram Kenton (g_kultur

Luxemburg. Die kornische Felsenlandschaft ist eine schräge, orangefarbene und drehbare Scheibe, hineingesetzt in ein Meer so blau, so blau, dessen (Wasser-)Wände sich je nach Bedarf auseinanderschieben und zusammenfügen, um andere Schauplätze freizugeben: grüne Natur, durch die man mittels einer Art Rolltreppe spaziert, eine düstere Kapelle inklusive Grabmal und spitzbögigem Kirchenfenster in Dunkellila, kahle Gärten, leere Häuser.Die Folgen der Schwerhörigkeit


In diesem genial schlichten Bühnenbild (Alison Chitty) erzählt der britische (Film-)Regisseur Mike Leigh eine absurd überdrehte Geschichte aus dem Tollhaus: Ein Knabe wird versehentlich zum Piraten statt zum "pilot" (Steuerlotse) ausgebildet. "Pilot" und "pirate" klingen im Englischen ziemlich ähnlich, besonders wenn man schwerhörig ist wie Frederics Amme Ruth, die für das ganze Desaster verantwortlich ist.
Frederic also hat nun seine Piratenausbildung beendet und will zurück ins zivilisierte Leben. Dort müsste er allerdings seine räuberischen Kollegen (die in Wahrheit aus Langeweile getürmte Adlige aus dem Oberhaus sind) der königlichen Gerichtsbarkeit übergeben, immerhin sieht er sich selbst als Sklave der Pflicht. Da er allerdings an einem 29. Februar geboren wurde, ist er erst fünfeinviertel Jahre alt, muss also noch weitere 60 Jahre Lehrzeit durchstehen. Die Piraten scheinen gerettet - fürs Erste.
So weit, so gaga: William Schwenck Gilbert, der Librettist, und Komponist Arthur Sullivan geben ihrem Affen Zucker bis zur Karies. Sie parodieren und entlarven in ihrer Operette "Pirates of Penzance" die britische Kasten-Gesellschaft gnadenlos, verhohnepipeln die Staatsgewalt, die in Gestalt einer dumpf-unfähigen Polizeitruppe vor jedem noch so lächerlichen Schurken bang den Schwanz einklemmt, und ziehen vor allem das Militär durch den Satirekakao - und das alles zu richtig süffiger Musik.
Adrian Powter ist ein herrlich aufgeblasener und bisweilen vor Selbstmitleid zerfließender, aber stets stimmgewaltiger Major-General, der mit seiner universellen Bildung in einer zungenbrecherischen Arie prahlt: Für die Zeile "I am the very model of a modern Major-General" hat er knapp zwei Sekunden Zeit, gefolgt von einem in ähnlich rasantem Stakkato abgespulten Lebenslauf, bei dem er und das Orchestre Philharmonique de Luxembourg freilich nicht in jedem Takt einer Meinung waren.
Vokal ebenbürtig mit schurkisch-dunklem Charakterbass sind ihm Joshua Bloom als schlitzohriger, aber auch sentimentaler Piratenkönig (wenn er es mit einem Waisenkind zu tun hat, steigen ihm regelmäßig die Tränen in die Augen) und Robert Murray als Frederic, der mit tenoralem Schmelz seine Mabel, eine der zwölf Tochter des Major-Generals, umwirbt - die erste Frau seit seiner Amme Ruth, derer er ansichtig wird und für die er Ruth (Rebecca de Pont Davies verleiht ihrer Figur neben den Charakterzügen der komischen Alten auch eine zutiefst tragische Seite) den Laufpass gibt.Ein Abgrund an Aktualität

 ... der übermütigen Töchter des Major-Generals – in der Mitte Mabel (Claudia Boyle). Fotos (2): Tristram Kenton

... der übermütigen Töchter des Major-Generals – in der Mitte Mabel (Claudia Boyle). Fotos (2): Tristram Kenton

Foto: ©Tristram Kenton (g_kultur


Mabel wiederum (Claudia Boyle), wie ihre elf Schwestern offenbar frisch einem Mädchenpensionat entschlüpft, umgirrt Frederic mit kehlkopfbrecherischen Koloraturen à la Rossini (Sullivan macht sich in allen seinen Operetten einen Spaß daraus, die Komponisten vom Kontinent zu zitieren und persiflieren). Und das ganze Ensemble - der Chor und einige der Mädels aus des Major-Generals Stall kommen vom Saarländischen Staatstheater - legt eine quirlige Spielfreude an den Tag, die immer wieder für Gelächter in die Szene hinein und langen Schlussapplaus sorgt.
Timothy Henry dirigiert die Luxemburger nach ein paar anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten (die Ouvertüre hätte man sich, ganz im Sinne der angriffslustigen Piratenhorde, mit etwas mehr Schmackes gewünscht) geschmeidig, frisch und peppig und mit einfühlsamem Gehör für die Solisten.
Man könnte das Ganze als eine viktorianische Schnurrpfeiferei aus dem Opernmuseum abtun, die Mike Leigh, vielfach ausgezeichneter Filmregisseur und wichtigster Vertreter des "New British Cinema", das in den 1980- und 90er Jahren gegen die Auswirkungen der rigiden Thatcher-Politik zu Felde zog, in seiner ersten Arbeit fürs Musiktheater liefert.
Aber bei genauerem Hinschauen tut sich ein Abgrund an Aktualität auf: Kennt man das nicht woanders her, dass man zwar alles sieht (wie die hasenfüßige Polizeitruppe), sich im entscheidenden Moment aber lieber wegduckt und den fadenscheinigen Mantel der Nachsicht (beziehungsweise Gleichgültigkeit) über alle Stolpersteine deckt? Bloß nicht Stellung beziehen, dann kann einen auch nichts umhauen - so scheint das unausgesprochene Motto dieser "Pirates" zu lauten. Am Ende kungelt man sowieso zusammen, als wäre nix passiert.
Und als sich Friede, Freude und Eierkuchen auf der Bühne ausbreiten, senkt sich ein überdimensionales Porträt einer arg sauertöpfisch dreinblickenden Queen Victoria herab, die dem wilden Treiben ihrer Untertanen taten- und hilflos zusieht: ein hübsch boshafter Hieb gegen die Ohnmacht der Mächtigen.
Mike Leigh wäre vermutlich nie darauf gekommen; schließlich liegt Großbritannien weit weg von Europa: Aber ein Brustbild von Angela Merkel mit nämlicher Miene hätte auch irgendwie gepasst.
"The Pirates of Penzance" hat am 22. November am Saarländischen Staatstheater Premiere. Karten gibt es im TV-Service-Center Trier, unter der TV-Ticket-Hotline 0651/7199-996 sowie im Internet unter www.volksfreund.de/tickets

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