Anleitung zum Irrewerden

Trier · Menschlichen Wahnsinn in vielen Schattierungen hat die Horrorrevue "Ein Abend im Grand Guignol" auf der Studiobühne des Theaters Trier beleuchtet. Dabei überzeugen die Darsteller, die zu einem großen Teil aus der studentischen und freien Szene stammen, mit durchweg guten Leistungen.

Anleitung zum Irrewerden
Foto: Petra Gueth

Trier. "Pech gehabt, mein Freund, es ist kein Traum und endet nie! Dieser Alptraum ist unendlich lang!", schmettert Tenor Bonko Karadjov als Edward Hyde seinem Alter Ego Henry Jekyll entgegen. Abrupt springt er auf eine nur knapp zwei Meter vom Publikum entfernte Krankenbahre und der Irrsinn des Psychopaten glänzt in seinen Augen. Auf derlei Schock-effekte müssen die Besucher der Theater-Studiobühne gefasst sein, denn das ist Programm des "Abends im Grand Guignol".
Unter der Federführung von Marc-Bernhard Gleißner haben sich verschiedene Gruppen der freien Trierer Theaterszene und feste Ensemblemitglieder zusammengeschlossen, um in fünf Episoden an die Tradition des um 1900 weltbekannten Pariser Horrorschauspiels anzuknüpfen. Entstanden ist ein buntes Psychogramm menschlichen Irrsinns und seiner Ursachen. Ähnlich wie beim französischen Vorbild wechselt dabei die Stimmung von dramatisch-aggressiv zu bitterbös-komisch.
Der gesungene Wettstreit zwischen Gut und Böse, "Jekyll & Hyde Resurrection", geht gleich zu Beginn in die Vollen. Der Text stammt aus Frank Wildhorns "Konfrontation", einer lyrischen Bearbeitung des Stoffes von Robert Louis Stevenson. das Verkörpern zweier Persönlichkeiten zugleich, akrobatische Einlagen in der Choreographie und dazu ausdrucksstarker Gesang - Karadjov schafft diesen Spagat und zieht die Theatergäste in Bann.Wenn Töten alternativlos ist


Bei "Sweeney Todd" ist kein Wunderelixier Ursache des Wahnsinns, die sozialen Umstände haben ihn zum psychopatischen Massenmörder werden lassen. Freimütig erzählt Norman Stehr in der Rolle des todbringenden Barbiers, warum er keine andere Wahl habe, als zu töten. Völlig unvermittelt ist Schluss mit dem Plauderton vom Sofa aus: Todd hat ein scheinbar wahlloses neues Opfer gefunden. "Ich will nicht bloß einige wenige umbringen, ich will alle töten", sagt er und schneidet mit dem Rasiermesser die Kehlen durch.
Absurde Komik und Kunstblut dürfen als Zutaten in einem Rezept à la Grand Guignol nicht fehlen. Beides bietet "A Kiss of Blood" von Jean Aragny und Francis Nelson. Ob im gezeigten Krankenhaus Patienten oder Ärzte verrückter sind, lässt sich schwerlich beurteilen. Die meisten Operationen enden jedenfalls nach heillosem Chaos mit dem Tod der Kranken. "12.30 Uhr. Exitus. Wir haben alles versucht", stellt Dr. Leduc alias Hildegard Nikodemus lapidar fest und alle gehen zur Tagesordnung über. Der Fall des Studenten Joubert (Emanuel Szewzyk) ist allerdings komplizierter. Er fühlt schreckliche Phantomschmerzen im Finger und verlangt eine Amputation. Blutig setzt er dieses Vorhaben letztlich selbst um. Doch die Geschichte geht tiefer. Der eingebildete körperliche Schmerz ist offenbar nur psychosomatische Folge des verdrängten Leids durch den Tod seiner Frau.
Hinter der Fassade sieht manches anders aus. Das muss auch das Reporter-Ehepaar Jeanette und Henry Valrant beim Besuch in einer Irrenanstalt erfahren, die nach dem "System des Doktor Goudron" geführt wird. Julia Morgens als herrlich schrill überdrehte Jeanette, Marc-Bernhard Gleißner, der als Henry seine vermeintliche Sicherheit und Ruhe schnell verliert, und Alexander Kotz als Anstaltsleiter ergeben eine urkomische Mischung. Am Ende bleibt das Lachen freilich im Hals stecken, weil man nicht mehr genau weiß, wer eigentlich verrückter Patient und wer "Gesunder" ist.
Zum Finale sitzen die Geister zu Gericht: Die "Gespenstersonate" von August Strindberg zeigt eine unentrinnbare Spirale der Schuld. Kein einfacher Stoff, den sich Alexander Kotz für sein Regiedebüt ausgesucht hat, aber der Coup gelingt dank der Leistung des Ensembles. Überzeugend dämonisch präsentiert sich Harald Kop als Direktor Hummel, aus der Wanduhr krächzt Christine Wendel als Mumie mit den Saal erschütternder Stimme und der von Angela Händel geleitete Opern-Chor sorgt für gruslige Grundatmosphäre.
Humor, Schockeffekte und Tiefgang hat der "Abend im Grand Guignol" zu einer gelungenen Mischung verschmolzen - was man sicher nur über wenige Halloween-Veranstaltungen sagen kann.

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