Auch Revoluzzer brauchen Helden

Seit 50 Jahren steht Joan Baez auf der Bühne, und nun hat sie es zum ersten Mal bis nach Trier geschafft. Das Publikum, überwiegend zwischen 40 und 60, zeigte sich ob des Besuchs der amerikanischen Folk-Ikone gerührt bis begeistert.

Trier. "Ach, du gehst heute Abend zu dem Musikantenstadel für Alt-68er". Ich verzichte darauf, meinem ersten Impuls zu folgen und die Frechheit des jungen Kollegen im Redaktionsbüro mit einem Tritt vors Schienbein zu quittieren. Er weiß es halt nicht besser, war er doch 1968 noch Lichtjahre von seiner Geburt entfernt.Musikantenstadel — diesen Vergleich würden die Zuschauer in der restlos ausverkauften Europahalle wohl mit Empörung quittieren. Die Frau, die heute Abend hier spielt, ist Teil ihrer Biografie. Damals, als die Jungs noch lange Haare trugen und die Mädels wallendes Selbstgestricktes oder superkurzes Provokatives. Heute sind sie Handwerkskammerpräsidenten, Festwochen-Intendanten, Studiendirektoren oder Oberärztinnen. Die meisten sind paarweise gekommen. Zu den Stones nimmt man die Kinder schon mal mit, aber Joan Baez gehört Papa und Mama und ihren Erinnerungen.Schon im Begrüßung-Applaus schwingt eine gehörige Prise "Oscar fürs Lebenswerk"-Herzlichkeit mit. Auch die antiautoritärste Bewegung kommt nicht ohne Autoritäten aus, auch Revoluzzer brauchen Helden. Joan Baez ist so eine Heldin, vielleicht gerade, weil sie auf der Bühne fast zerbrechlich wirkt, schmal, zurückhaltend. Tee dampft in einer grünen Tasse, das Bewegungs-Repertoire verzeichnet keinerlei Hyperaktivität, kein vorbeihuschender Roadie tauscht die verstimmte Gitarre (sie ist tatsächlich noch verkabelt!) gegen eine andere aus. "Ich muss mal wieder stimmen, ihr könnt euch ja so lange unterhalten", juxt die Sängerin. Ein Nostalgie-Trip, aber auch eine Lehrstunde in Entschleunigung.Musikalisch durchmisst Joan Baez die gesamten 50 Jahre ihrer Bühnen-Karriere. "Farewell Angelina", ein Evergreen zum Auftakt, gefolgt von "God is god" von ihrer im September erscheinenden neuen CD. Sie relativiert das etwas überraschende religiöse Glaubensbekenntnis auf ihre Weise: "…was immer es bedeuten soll", sagt sie sybillinisch und überlässt dem Publikum die Interpretation.Jeder Titel ein Stich ins Herz

Konstantin Weckers schönes "Wenn meine Brüder kommen" und Bettina Wegners "Sind so kleine Hände" singt sie in einem rührend bemühten Deutsch. Bei "Christmas in Washington", einer zutiefst skeptischen Bilanz der Situation in den USA, mischt sich Bitterkeit in das gesellschaftskritische Pathos. Immerhin: Der unsägliche George W. Bush im Weißen Haus habe sie wieder motiviert, zu politischen Liedern zurückzukehren, erzählt die 68-Jährige. Das sei aber auch schon "das einzig Positive, was er im Amt geleistet hat".Da jubelt das Publikum - und hört darüber hinweg, dass die Arrangements der dreiköpfigen Begleitband oft arg ins Seicht-Plakative abgleiten. Bei "What a wonderful world" fängt man gar an mitzuklatschen - worauf mir siedendheiß der junge Kollege aus dem Büro wieder einfällt.Kollektiver Glanz in den Augen

Aber dann wirft die Baez den Anker. Beginnend mit "Rose of Sharon" der Liedermacherin Eliza Gylkinson, das das Zeug zu einem absoluten Klassiker hat. Danach steht sie für 20 Minuten ganz allein auf der Bühne, und auf einmal fällt alles Flache, Oberflächliche, Routinierte von ihr ab. Sie singt - welch ungewöhnliche Kombination - Tom Waits, der ihr mit "Day after tomorrow" einen grandiosen Titelsong für die kommende CD geschrieben hat. "Love is just a four-letter-word", "Diamonds and Rust" - jetzt ist jeder Titel ein Stich ins Herz, und in vielen Augen glitzert es verdächtig. Da könnte ihr etwas gelingen wie Johnny Cash, der am Ende seiner Karriere mit den "American"-Songbooks zum Kern seiner Musik vorgestoßen ist.Bei John Lennons "Imagine" schmilzt das Publikum endgültig dahin, auch wenn das Finale des "offiziellen" Teils nach 80 Minuten recht früh kommt. Aber dafür entschädigt ein langer Zugaben-Set, unter anderem mit "Sag' mir, wo die Blumen sind", "Gracias a la vida" und "Sacco&Vancetti", bei denen sich der Saal als hochgradig textfest erweist. Am Ende ein kollektiver Glanz in den Augen, wie man ihn früher wohl nur durch Zuführung halluzigener oder alkoholhaltiger Substanzen erzeugt hätte. Aber mit zunehmenden Alter lernt man, auch ohne Exzesse Spaß zu haben.

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