Auf ein Gespräch mit Herrn Jonathan

Wittlich · Mit Jonathan Engel würde man gerne einmal einen Kaffee trinken gehen. Leider ist er eine literarische Figur. Die Wittlicher Autorin Rosemarie Schmitt hat um ihn ihren ersten Roman gestrickt. Ein gelungenes und anregendes Debüt.

 Begibt sich auf ein literarisches Terrain mit enormer Fallhöhe: die Autorin Rosemarie Schmitt. Foto: privat

Begibt sich auf ein literarisches Terrain mit enormer Fallhöhe: die Autorin Rosemarie Schmitt. Foto: privat

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Auf ein Gespräch mit Herrn Jonathan
Foto: Ariane Arndt-Jakobs (arn) ("TV-Upload Arndt-Jakobs"

Wittlich. Jonathan Engel ist 69 Jahre alt, Bibliothekar im Ruhestand, Witwer. Seit 30 Jahren wohnt er in einer Dachgeschosswohnung am Rand Berlins. Wenn er nach seinem Pförtnerjob bei einer Versicherung um 22.30 Uhr nach Hause kommt, zieht er rote Filzpantoffeln an, setzt sich in den Ohrensessel und hört "gepflegte klassische Musik". Das macht er immer so. Er braucht Ordnung und Regelmäßigkeit, Dinge, auf die er sich verlassen kann.
Jonathan Engel führt ein gediegenes, manche würden sagen: spießiges Leben. Nichts scheint ihn in seinen Grundfesten erschüttern zu können. Nicht einmal der plötzliche Tod seiner über alles geliebten Frau Irma. Zumindest nicht äußerlich. Er wahrt die Fassung. Innerlich aber ist er in Aufruhr. In seinem Kopf herrscht Chaos. Und: "Je mehr und je ungeordneter Jonathan dachte, desto ordentlicher musste es um ihn herum sein."
Rosemarie Schmitt hat sich den perfekten Protagonisten für ihren Debütroman geschnitzt. Jonathans Gedanken sind eine Spielwiese, auf der sich die 54-jährige Wittlicher Autorin austoben kann. Sie lässt ihn über das Leben an sich sinnieren. Und über das Leben anderer. Sie lässt ihn Schubladen öffnen, Schubladen in Schreibtischen von Angestellten der Versicherung. In jeder findet er Geheimnisse. Die nagen an ihm. An seinen Einstellungen. An seinem Schubladendenken. Am meisten nagt an ihm, was er in der abgeschlossenen Schublade im Sekretär seiner Frau entdeckt. Nach und nach bröckelt Jonathans (Welt-)Ordnung. Bis er resigniert feststellt: "Überall nur Lügen, Schmutz, Schmerz und Tod."
Jonathan ist mehr als nur das Zentrum des Romans - er ist für alles verantwortlich. Zum Beispiel für den Spannungsbogen, der allein an seine Entwicklung geknüpft ist. Die ist nicht immer nachvollziehbar. Manche Entscheidung fällt irritierend schnell für jemanden, der Veränderungen scheut. An einigen Stellen hätte die Autorin ihrem Charakter noch ein paar Seiten Zeit schenken dürfen. Auch, um die einzelnen Erzählfäden besser miteinander zu verweben.
Dass sich einer der roten Fäden dabei erst am Schluss offenbart, ist mutig. Die Autorin kratzt an den Grenzen der Fiktionalität - mehr soll nicht verraten werden. Sie begibt sich auf ein literarisches Terrain mit enormer Fallhöhe. Weil sie das aber so souverän und selbstverständlich tut, liest es sich genau so: als logische Konsequenz für die Geschichte ihres Jonathans.
Auch ihm hätte eine etwas klarere Führung und eine charakterliche Zuspitzung noch besser getan. Die Autorin kann ihrer Figur vertrauen, sie trägt: Jonathan zu begleiten ist alles andere als langweilig. Dadurch, dass er sich allein durchs Leben denkt, wird der Leser zu einem - zwangsstummen - Gesprächspartner.
Gern würde man Irmas Platz im verwaisten roten Sessel einnehmen und mit ihm diskutieren. Über Partner, Liebe und Sexualität, Vertrauen, Glaube und Verrat. Oder über die literarischen Werke, die er, der Bibliothekar, zitiert. Und sehr gern auch darüber, welcher Figur Rosemarie Schmitt wohl ihren nächsten Roman widmen wird. arn

Heute liest Rosemarie Schmitt um 19.30 Uhr im Atelier Casa do Mundo in Wittlich. Der Eintritt kostet 4 Euro; Reservierung erforderlich: 0172/9545910; casadomundo@t-online.de ; weitere Infos: <%LINK auto="true" href="http://www.rosemarieschmitt.de" class="more" text="www.rosemarieschmitt.de"%>

Rosemarie Schmitt: Herr Jonathan ... (unbeabsichtigte Erkenntnisse eines ehemaligen Bibliothekars), Stephan Moll Verlag, 298 Seiten, 11,50 Euro.

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