Aufgeschlagen - neue Bücher

Auf eine wunderbar melancholische Reise durch ein halbes Jahrhundert Istanbul entführt Orhan Pamuk seine Leser in "Diese Fremdheit in mir”. Der anatolische Dorfjunge Mevlut kommt mit zwölf Jahren an der Seite seines Vaters in die Stadt am Bosporus, wo er lernt, Joghurt und Boza zu verkaufen, bevor er sich verabschiedet von der Idee, eines Tages zu studieren und etwas Großes zu werden.

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Foto: (g_kultur

Boza ist ein traditionelles, leicht alkoholisches Getränk aus vergorener Hirse, das auch gläubige Moslems nicht verschmähen - es benebelt die Sinne ganz leicht. Und genau diese Wirkung erzeugt auch die Lektüre des Romans, dessen Untertitel so lang ist, dass er nicht auf den Buchdeckel passt: "Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karatas und seiner Freunde sowie ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012.” Märchenhaft ("Es war einmal...”) erzählt Pamuk das Leben des hübschen Mevlut, der mit schweren Behältern auf den Schultern jahrzehntelang durch die Stadt zieht und dabei vielen Menschen und Milieus begegnet. Seine "Booo-zaaa”-Rufe hallen durch die Straßen und die Buchseiten wie Rufe aus einer rasant untergehenden Epoche. Viele seiner Kunden kennen Boza nicht mehr - so wie die meisten Pamuk-Leser vom alten Instanbul nichts wissen, das längst verschüttet wurde beim explosionsartigen Zuzug von Millionen Einwanderern auf den Hügeln am Bosporus. Zugleich erzählt der Roman eine Liebesgeschichte - und das auch noch nach der Entführung einer falschen Braut. Die Stadt Istanbul kann sich glücklich schätzen über dieses detailreiche literarische Denkmal seiner Geschichte - auch wenn diese nicht bei der Folklore stehen bleibt. Pamuk kehrt nämlich Korruption, Folter und Pogrome gegen Aleviten und andere Minderheiten keineswegs unter den Teppich. Anne Heucher Orhan Pamuk, Diese Fremdheit in mir, Carl Hanser Verlag 2016, 592 Seiten, 26 Euro

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