aufgeschlagen - neue bücher

Am Anfang steht eine herzzerreißende Tragödie. Ein kleiner Junge verliert auf der Schiffspassage in ein unbekanntes Land die Papiere, die seine Identität und die seiner Eltern erklären.

Trotz intensiver Suche tauchen die Unterlagen nicht mehr auf. Der Junge ist allein in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht kennt. Ein älterer Mann nimmt sich des Kindes an, will ihm helfen, seine Mutter zu finden. Doch auch er ist ein Fremder, der erst noch die Sprache lernen und sich mit dem Land vertraut machen muss. Was folgt im neuesten Roman des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee, ist kein trauriges oder rührendes Flüchtlingsschicksal, wie es sich tagtäglich überall auf der Welt abspielt. Der lakonisch beschriebene Alltag der beiden Neuankömmlinge suggeriert zunächst, dass es das Land wirklich geben könnte. Es wird spanisch gesprochen, es gibt die Einwanderungsbehörde, die Zuteilung von Unterkunft, Brot- und Wasserrationen, Jobvermittlungshilfe. Doch allmählich erweist sich das Land als surreal, als Ort der Fantasie. Niemand wird abgewiesen, es gibt Arbeit für alle und Nahrung - auch wenn diese fade schmeckt. Jeder bekommt bei der Ankunft einen neuen Namen, ein neues Geburtsdatum. Das markiert den Bruch mit der Vergangenheit. Beziehungen sind von Wohlwollen geprägt. Eine sozialistische Utopie? Oder eher die Hölle? Leidenschaft, Drama, Spannung sind als "alte Denkweise" verpönt, Ironie versteht man auf der "Wolke des Wohlwollens" nicht. Nur Simon scheint anders zu ticken. Ihm fehlt "das Gehaltvolle von tierischem Fleisch, mit all dem Ernst des Blutvergießens und des Opfers dahinter". Jesus taucht in diesem philosophischen Roman nicht auf. Oder doch? So wie Coetzee mit Fakten und Fiktionen spielt und ihre Grenze verwischt, könnte der Titel auch eine schelmische Finte sein. Warum sollte er die Bibel nicht um ein fantastisches, stilistisch grandioses Kapitel erweitern?!Annemarie Heucher J. M. Coetzee, Die Kindheit Jesu, Roman, S. Fischer Verlag, 352 Seiten, 21,99 Euro.

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