Aufgeschlagen - Neue Bücher

Ein Dorf in Brandenburg. Keine 100 Kilometer von Berlin entfernt, 40 Autominuten bis zum nächsten Einkaufszentrum, 200 Einwohner.

Für den unmittelbaren Lebensunterhalt sorgen Bofrost und Amazon. Gäbe es nicht die Internetadressen und Nachrichten von der Love Parade oder der Pleite bei Lehmann Brothers, könnte man dieses Dorf mit seiner vorstaatlichen Tauschgesellschaft auch 200 Jahre früher ansiedeln als im Sommer 2010. Hinter den schmucken Fassaden des scheinbaren Landidylls verbirgt sich ein Paralleluniversum. Hier bemüht niemand die Justiz, wenn etwas Schlimmes passiert. Man regelt alles unter sich. `"Geld", so heißt es, "spielte eine geringere Rolle als die Frage, wer wem einen Gefallen schuldete." An diesem Ort Unterleuten entwickelt Juli Zeh mit bissigem Humor einen komplexen Gesellschaftsroman über ein fragwürdiges Sozialgefüge. Der Titel ("Unter Leuten") spielt darauf an, dass ein Dorfbewohner nie allein ist. Zu dem runden Dutzend recht eigenwilliger Hauptpersonen zählen die Alteingesessenen, die sich von Klein an Feind sind, Wendegewinner und -verlierer, und die Zugezogenen - Öko-Spinner, die seltene Vögel verwalten und Bauvorhaben blockieren, oder Aussteiger, die die Naturidylle suchen. Als ein Windpark-Investor auftaucht, um Land für seine Anlagen zu kaufen, bringt das gewaltige Dynamik in die Beziehungen und Konflikte im Dorf. Hat die Lebensform Dorf eine Zukunft? Juli Zeh gibt jeder Figur ihre Geschichte - mit Ironie, flotten Wortschöpfungen und markiger, bisweilen lakonischer Charakterisierung ("Für einen Skoda wirkte sie zu jung und zu fröhlich - also Frontera"). Ihr gelingt damit eine ernüchternde Bestandsaufnahme dessen, was man Dorf nennt. Dass die Leute um der schönen Zuspitzung willen manchmal etwas holzschnittartig erscheinen, tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Anne Heucher Juli Zeh, "Unter Leuten", Roman, Luchterhand Verlag, 2016, 640 Seiten, 24,99 Euro

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