Aufgeschlagen

Ein Mann spielt Gott. Andreas Wolf steht in puncto allgemeine Bewunderung auf einer Stufe mit Aung San Suu Kyi und Bruce Springsteen.

Aufgeschlagen
Foto: (g_kultur

Der 1960 in der DDR geborene privilegierte Sohn des obersten Chefökonomen, zaghafter Dissident, sexbesessener Feminist, öffentlicher Kämpfer für die Bewahrung der Stasi-Archive, gründet das Whistleblow-Projekt Sunlight, das korrupten Regierungen und Firmen öffentlich den Spiegel vorhält. Er siedelt es in den bolivianischen Bergen an, weil ihm in vielen anderen Ländern Strafverfolgung wegen Geheimnisverrats und Hackerei droht. Ein Julian Assange, nur besser, moralischer, anspruchsvoller. Dabei wird er getrieben von unerträglichen Schuldgefühlen. Er hat einen Mord auf dem Gewissen. Sein Schlachtruf "Sonnenlicht desinfiziert am besten” lenkt nur ab von eigenen Abgründen, die Wolf intelligent und mit großem Aufwand im Dunkeln halten will. Doch er hat Mitwisser. Schuldig fühlen sich alle Figuren des gigantischen Gegenwartsromans von Jonathan Franzen, auch wenn sie sonst keine Kriminellen sind, sondern Journalisten, Professorin, Künstlerin, Studentin oder Millionenerbe. In einem Panorama über mehr als 60 Jahre zwischen Deutschland, den USA, Mittel- und Südamerika breitet Franzen die unterschiedlichen Charaktere aus, psychoanalysiert ihre Geschichte bis ins Mark und zeigt, wie bedingt ihre Freiheit im Internet-Zeitalter ist. Wie einfach Manipulation funktioniert. Wie brüchig die Wirklichkeit. Im Netz schreibt Wolf seine Biografie um, versucht damit, seine Schuld zu tilgen. Und er versucht, Schicksal zu spielen. Irgendwann ist er "so tief ins Netz verstrickt, so sehr in dessen Totalitarismus involviert, dass seine Online-Existenz ihm bald realer vorkam als er selbst". Das geschieht verblüffend, erschreckend, geradezu schockierend - andererseits ist dieser vielschichtige wuchtige Gesellschaftsroman, gespickt mit Anspielungen von Hamlet bis Mephisto, oft auch komisch überzeichnet. Von wenigen Längen abgesehen höchster Lesegenuss! Anne Heucher

Jonathan Franzen, Unschuld, Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 830 Seiten, 26,95 Euro

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