Beobachten, nicht mitleiden

Trier · Erstaunlich zeitgemäß und fast beiläufig: Bachs Johannespassion im Trierer Dom

Trier Es war ein ganz kleiner Moment atemloser, gespanntester Ruhe. Thomas Kiefer auf dem Dirigierpodium hält inne, scheint fast zu zögern und gibt dann deutlich und entschieden den Einsatz zum Eröffnungschor von Bachs Johannespassion. Unversehens klingt im fast voll besetzten Trierer Dom ein Gefühl von der umfassenden, der kosmischen Dimension dieser Musik an, die so symbolstark göttliche Würde beschwört. Domchor, Kathedraljugendchor, die Dirigier-Studenten aus Wien, das Barockorchester L'arpa festante beeindrucken dabei nicht so sehr durch Präzision.
Doch trotz etlicher Unschärfen - innerhalb des Chors, aber auch zwischen Chor und Orchester: Die Interpretation hält, was der Eingangstext verspricht. Sie vermittelt das Bewusstsein von Größe auch in der tiefsten Erniedrigung von Kreuzigung und Tod. Auch die meisten Solisten tragen diesen oratorischen Stil mit. Michael Feylers Evangelist entpuppt sich als Wunder an Sprachdeutlichkeit, an Leichtigkeit und Tragfähigkeit in der Tongebung. Günter Raumer gibt dem Jesus sakrale Würde mit und bleibt doch schlank im Ton. Bei Simon Baileys Pilatus klingt durchweg die autoritäre Nüchternheit eines römischen Statthalters mit, der mit Prozess, Urteil und Exekution wenig zu tun haben will. Und in den Arien erweist sich Bailey als außerordentlich prägnant und sicher. Bettina Ranchs knabenhaft schlanker Alt gibt der "Es ist vollbracht"-Arie eindringliche Tiefe ohne Sentimentalität mit. Erlend Tvinnereim allerdings bleibt in den Tenor-Arien weitgehend ausdrucks arm, und Sopranistin Elisabeth Scholls flüchtet sich in eine unflexible Helligkeit des Tons.
Trotz einiger Detailprobleme: Es war gewiss eine eindrucksvolle Aufführung. Der Chor steigert sich in den Volkschören zu enormer Intensität - wütend, aggressiv, höhnisch und hinterhältig-devot. Er gibt den Chorälen Entschiedenheit und Glaubenskraft mit. Und im Schlusschor (vor dem Choral) besticht die Beweglichkeit, die Thomas Kiefer dem schreitenden Sarabanden-Tanzrhythmus mitgibt. Nein, mit Jesu Tod ist noch nicht alles zu Ende!
Und doch: Etwas an dieser Interpretation erlebt man auch als neutral, als unpersönlich. Es war, als hätten die Interpreten sich selbst und die Hörer in die Position eines Dritten begeben, der das Geschehen beobachtet ohne mitzuleiden.
Gottes Passion und Tod, einst für alle Christen Dreh- und Angelpunkt im religiösen Selbstverständnis, werden zur würdevollen, ästhetisch hochstehenden und doch weithin beliebigen Begebenheit. Beispielhaft steht dafür in der Trierer Aufführung der Schlusschoral "Ach Herr, lass dein lieb' Engelein". Musikalisch stand alles zum Besten: ein flexibles Orchester, ein hoch kultivierter Chor, deutliche Sprache und dazu Transparenz in der vierstimmigen Struktur. Aber: Wo bleibt die religiöse Kraft, mit der Bach für jeden Gläubigen die Passion Christi ins eigene Sterben und Auferstehen umdeutet? Dieser Moment, der einst Menschen zum Weinen brachte, wirkte dieses Mal unbeteiligt und fast beiläufig. Vielleicht ist die Tendenz zu einer künstlerisch verantwortungsvollen und durchweg hochrangigen Neutralität der Preis für die aufgeklärte, tolerante, liberale und von Fanatismus freie Religiosität der Moderne. Was wäre denn auch die Alternative?
Gleichwohl: Nach dem letzten Akkord und bevor der starke Beifall losbrach, kehrte erst einmal regungslose Stille ein. Vielleicht hatte die christliche Botschaft der Johannespassion trotz allem die Hörer erreicht. Im ungünstigsten Fall indes dokumentiert deren Reaktion den großen Respekt vor Bach und seiner unvergleichlichen Musik.

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