Berührende Irrfahrt - Antiker Stoff, brandaktuell: Umjubelte Uraufführung von "Odyssee.16" in Trier

Trier · Was, wenn die Heimat unerreichbar ist? Im Tufa-Projekt "Odyssee.16" in Trier erzählen Flüchtlinge von ihrer Irrfahrt ins Ungewisse. Dabei verschmelzen alte und neue Heimat - menschlich, tänzerisch und musikalisch.

Er ist der berühmteste Flüchtende der Welt: Odysseus. Vor mehr als 2600 Jahren geschrieben, hat Homers "Odyssee" nichts an Aktualität verloren. Auch heute sind Menschen auf der Flucht, suchen eine neue oder wollen zurück in die alte Heimat. Stefan Bastians verleiht ihnen im bejubelten Musiktheater-Projekt "Odyssee.16" für die Tufa in Trier eine Stimme, webt ihre Geschichte ein in die der antiken Sage.

Regisseur Ali Sheikhmous und sein Assistent Anas Khaled inszenieren die "Odyssee". Szenen des Schauspiels verschmelzen mit der Realität. Erinnern sie an ihre Flucht, an die Schleuser, die überfüllten Boote. "Ich habe Poseidon auf der Flucht im Meer getroffen", sagt Sheikhmous. "Ich habe sein Gesicht vor mir gesehen, seine Stimme gehört, seine nassen Arme gefühlt."

Die Texte, die Bastians - zusammen mit Omar Abouhamdan - geschrieben hat, machen betroffen. Malen Bilder, wie den Schlüssel, den Khaled um den Hals trägt - die letzte Verbindung zu seinem Zuhause. Verdeutlichen die Tragödien, die sich weltweit - fern von Europa - abspielen. Unvorstellbares Leid. Sichtbar in Videosequenzen von Krieg, Gewalt, Flucht. Hörbar in den Melodien, die Saif Al-Khayyat komponiert und arrangiert hat. Dazu bedient er sich europäischer und arabischer Werke, etwa von Händel, Purcell und Mohamad Flefil, mischt in seinen eigenen Stücken Musikstile seiner alten und neuen Heimat.

Mühelos und ausdrucksstark meistern Susanne Ekberg (Athene) und Nadine Woog (Kalypso) beide Genres. Auch Jazz- und Popchor und Klangvolk (Leitung Thomas Rieff) beherrschen die die teils schwierigen, weil ungewohnten orientalischen Klänge. Einzig die Musiker (Dirigat: Julia Neumann) zeigen leichte Unsicherheiten, übertönen in wenigen Szenen die Akteure.

70 Akteure im Zirkuszelt


An der Akustik liegt es nicht. Das Zirkuszelt im Trierer Palastgarten eignet sich gut als Spielstätte, kommen doch die Stimmen klar und deutlich rüber. Und es unterstreicht das Flüchtige, das Temporäre. Genauso wie das allgegenwärtige Segelschiff, das sich die Flüchtlinge auf der Bühne selbst zusammenbauen. Dazu tönen aus Orchester und Chor quietschende, klackernde, schnalzende, ächzende Geräusche.

Insgesamt wirken rund 70 Akteure mit, darunter der elfköpfige Bürgerchor, der die Nebenrollen und die Statisterie überzeugend übernimmt. Auch die Flüchtlinge, die in einem Projekt von Jobcenter und Palais e.V. das Bühnenbild, sämtliche Masken und die beeindruckenden Großfiguren bis hin zum Schiff (Entwürfe Onur Eker) gefertigt haben ( der TV berichtete ), spielen mit. Sie zu beschreiben, reicht der Platz hier nicht: Man muss sie sich ansehen. Voll gepackt mit Tönen, Gesängen, Requisiten, und Bildern ist Bastians Inszenierung. Aber nicht übervoll wie das Boot, auf dem die Geflüchteten keinen Platz mehr finden.

Zurück zum Stück im Stück: Odysseus durchlebt seine Irrfahrt. Eine Paraderolle für Tim Olrik Stöneberg. Der Schauspieler, der bis 2015 Ensemblemitglied am Trierer Theater war, spielt eindrucksvoll einen zweifelnden Helden, mal kämpferisch, mal empfindsam. Ein Mann, der sich von den Sirenen bezirzen und von einer verführerischen Kalypso betören lässt. Ein Mann, den weder Polyphem noch Skylla aufhalten können.

Penelope (Friederike Majerczyk) ist gefangen im Netz ihrer aristokratischen Freier - entlarvt durch die Schweinemasken - die von allen Seiten an ihr zerren. Im weißen Kleid, wie zur Hochzeit herausgeputzt, windet sie sich in ihren Fesseln - hauchzart, aus Netz und Spitzen - und doch erstaunlich fest. Majerczyk zeigt sich in ihrer Rolle höchst wandelbar. Ihre Verzweiflung, ihre Zerrissenheit sind deutlich spürbar, ihre Stimme voller Sehnsucht. Und dann wieder gibt sie sich verrucht; williges Fleisch für die Freier. Doch noch immer hofft Penelope auf die Rückkehr ihres Gatten, dargestellt durch das grüne Kleid, das sie sich überstreift - Stephan Vanecek hat die Kostüme bildhaft gestaltet. Als Telemachos macht er sich auf die Suche nach seinem Vater, den er nur aus Geschichten kennt.

Überragend: Saeed Hani als Odysseus‘ Hund Argos. Ob er sich an Stöneberg schmiegt oder mit ihm herumtobt - jede Bewegung des Tänzers erinnert an einen treuen Vierbeiner. Stark auch die Szene, in der Khaled über die Wichtigkeit eines Passes sinniert: "Er wird anerkannt, wenn er gut ist." Der Mensch könne noch so gut sein, ohne anerkannt zu werden. Und die, in der Sheikhmous und Khaled Zitate berühmter Flüchtlinge wie Berthold Brecht, Carl Zuckmayer und Béla Bartók vorlesen.

Die beiden syrischen Laiendarsteller sind die Überraschung des Abends. So locker sie sich als Regisseure geben, so ausdrucksstark die Passagen, in denen sie ihre eigene Flucht spielen. Da gehört viel Mut dazu, ebenso wie zum Auftritt in einer Sprache, die sie nicht perfekt beherrschen - Hut ab! Die Kernfrage des Stücks stellt Khaled, wenn er über seine zerstörte Heimat sinniert: "Werden wir uns als Fremde fühlen, wenn eine Heimkehr möglich wäre?" Eine Frage, die sich schon der antike Odysseus gestellt hat.

Weitere Termine: 29. und 30. Oktober, 15 Uhr, 3., 4., 5. November, 20 Uhr, Zelt im Palastgarten. Karten gibt es im TV-Service-Center Trier.

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