Bilder aus einer fremden Welt
Es ist einiges, was sich das Trierer Theater zum Saisonstart im Schauspiel vorgenommen hat: ein sperriges, hochkomplexes Werk der Weltliteratur für die Bühne aufzubereiten, mit den Möglichkeiten eines kleinen Hauses und einem gerade mal zwölfköpfigen Ensemble. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Trier. Indien, 1947. Ein Subkontinent auf dem Weg in die Freiheit. Eine Zeit zugespitzter Hoffnungen und Ängste, heftiger gesellschaftlichen Konflikte - ein permanenter Ausnahmezustand. Eine Zeit auch der wuchernden Mythen, zum Beispiel um die 1001 "Mitternachtskinder", die in der Nacht der Unabhängigkeit zur Welt kommen und denen magische Kräfte zugeschrieben werden.
Eines dieser Kinder ist Salim Sinai, und diese zentrale Figur lässt als 30-Jähriger gemeinsam mit seiner Freundin Padma sein Leben und dessen Vorgeschichte Revue passieren. Immer in enger Verzahnung mit der Historie von Indien und Pakistan, in die ihn der Autor kunstvoll verwickelt.
Spiel mit vielen Ebenen, Figuren, Symbolen
In Salman Rushdies Buch ist das ein Spiel mit unendlich vielen Ebenen, Figuren, Symbolen. "Es gibt so viele Geschichten zu erzählen, zu viele, ein Übermaß an ineinander verwobenen Leben, Ereignissen, Wundern, Orten, Gerüchten", so beschreibt Rushdie selbst sein "unentwirrbares Gemisch". Und damit bezeichnet er punktgenau, was die Faszination seines Werkes ausmacht - und die Beinahe-Unmöglichkeit, es in einen Theater-Abend zu packen.
Stefan Maurer tut in seiner Inszenierung alles Menschenmögliche, um die Fäden zu entwirren. Salim Sinai und Padma treten wie ein Kommentatoren-Paar auf, das die Geschehnisse einordnet, erklärt, sogar rekapituliert, damit das Publikum einigermaßen den Überblick behält. Und doch wird es irgendwann - vor allem in der zweiten Hälfte, wenn aufs Tempo gedrückt wird - mühevoll, den Sprüngen der Gedanken- und Handlungs-Ebenen zu folgen.
Zumal die Schauspieler bis zu fünf Rollen übernehmen müssen, was die Übersichtlichkeit nicht erhöht. Maurer setzt auf szenische Schlaglichter, auf schnelle, in sehr gekonnter Weise verknappte Moment-Aufnahmen. Man muss auf jede Geste, jede Nuance achten. Die Form des individuellen Rückblicks erinnert von fern an die Verfilmung der "Blechtrommel", in der ja auch ein Protagonist sein Leben im Licht der politischen Ereignisse Revue passieren lässt - lange vor seiner Geburt beginnend.
Kultur, Religionen und Mentalitäten Indiens spielen eine viel geringere Rolle als erwartet. Dafür schadet es nicht, wenn man sich in der indisch-pakistanischen Geschichte auskennt - oder die bei allen Vorstellungen angebotene Möglichkeit der Einführung nutzt.
Man kann aber auch anders an die Aufführung herangehen und sich einfach beeindrucken lassen von den faszinierenden Bildern, die Regisseur Maurer und die Ausstatterin Anja Jungheinrich mit einfachen Mitteln entstehen lassen. Tücher, Vorhänge, die intelligente Nutzung der Hebepodien, eine exzellente, flotte Choreographie: Das schafft Atmosphäre und Spielräume. Und witzig ist die Geschichte, aller Dramatik zum Trotz, auch.
Dass kein Schulfunk daraus wird, daran hat das Trier-Debüt von Gabriel Spagna als Salim Sinai maßgeblichen Anteil. Anfangs ein reiner Tor, der mit seinen Zauberkräften durch die Zeitläufte stolpert, später den Verführungen der Macht und des Krieges ausgesetzt, spielt Spagna seine Rolle mit der nötigen Distanz, erdet das Geschehen, nimmt das Publikum immer wieder mit ins Boot.
Das Ensemble (Antje-Kristina Härle, Jan Brunhoeber, Klaus-Michael Nix, Peter Singer, Franziska Küpferle, Christian Miedreich, Sabine Brandauer, Vanessa Daun, Helge Gutbrodt, Tim Olrik Stöneberg, Manfred-Paul Hänig) kämpft engagiert für das schwierige Stück und hat sich am Ende den respektvollen Beifall des Publikums redlich verdient.