Buchtipp Fallschirmseide

Die Sehnsucht, durch harte Arbeit das im Krieg Erlebte zu vergessen, war ein wesentlicher Grund für den ökonomischen Erfolg der deutschen Wirtschaftswunderjahre.

 Roman Fallschirmseide

Roman Fallschirmseide

Foto: TV/Verlagsgruppe Random House

Das ist aus vielen Zeitzeugenberichten bekannt. Und dieser Erfolg beflügelte wiederum das Vergessen. Mit der unbewältigten Nazi-Vergangenheit und der neueren deutschen Geschichte beschäftigt sich die Autorin Irina Korschunow (1925-2013) in mehreren ihrer Werke. So auch in dem Roman „Fallschirmseide“, in dem sie den Leser mit Hans Cramme bekannt macht, der kurz vor Kriegsende in einem Wald in Niedersachsen erschöpft liegenbleibt, während seine Kameraden weiterziehen – fast alle in den Tod. Und wie im Leben der meisten Menschen der Zufall die Regie führt, so auch bei diesem Mann: Eine Soldatenwitwe findet ihn, pflegt ihn gesund und versteckt ihn bis zum Einmarsch der Amerikaner in ihrem Keller. Hans Cramme hat weiterhin Glück im Unglück: Da seine Eltern beim Bombardement Magdeburgs ums Leben gekommen sind, findet er eine Bleibe bei seiner Patentante in Wolfenbüttel und entdeckt auf dem Schwarzmarkt sein Händlertalent. Außerdem begegnet er Dora, die mit ihrer Mutter aus dem Osten geflohen ist. Bei ihrem Stelldichein in einer alten Ziegelei finden die beiden drei Ballen Fallschirmseide. Diese und ihr Leistungswille ermöglichen es Hans und Dora, aus der Armut herauszufinden und als Unternehmerpaar das deutsche Wirtschaftswunder in der Adenauer-Ära mitzugestalten: Sie können dank Doras Geschick als Schneiderin und Hans‘ unternehmerischem Kalkül mit der Produktion von Seidenblusen beginnen, die zum Verkaufsschlager werden und den Grundstein legen für den Aufbau einer florierenden Textilfirma. Das Paar bekommt zwei Kinder: Julian und Verena, die von den Eltern alles haben können – außer gemeinsam verbrachter Zeit. Hans treibt unermüdlich die Expansion der Firma voran.

Aber bei Dora melden sich immer stärkere Zweifel an dem Leben, das sie mit ihrem Mann führt – hatten beide ursprünglich doch andere Pläne: Sie wollten studieren. Schließlich rechnet der moralisierende Sohn erbarmungslos mit dem Vater ab. Er glaubt in ihm einen skrupellosen Kaufmann und Ausbeuter seiner Angestellten zu erkennen, mit dessen Welt er sich nicht identifizieren will. Dora sieht sich an einem Scheideweg angekommen – zumal sie als Frau in einer Gesellschaft mit patriarchalischen Strukturen, die auch ihr Mann Hans verinnerlicht hat, ihre Leistung für die Firma nicht ausreichend gewürdigt sieht. Das Jahr der Studentenrevolte 1968 wird auch das Jahr von Doras ganz persönlicher Revolution.

Der Roman macht anhand  der Lebensgeschichte von Hans und Dora einmal mehr bewusst,  welche Themen die Menschen in Deutschland zwischen 1945 und 1968 bewegten.  Lesenswert ist er auch deshalb, weil er eine wichtige Erkenntnis in Erinnerung bringt, indem er das Arbeitsethos der Kriegsgeneration relativiert: Das, was der Mensch sich mit seiner Arbeit erschafft, kann für ihn zum Tyrannen werden. Rastloses Tätigsein kann ihn verschlingen und ihm den Blick trüben für die Belange des Mitmenschen.

Sabine Ganz

Irina Korschunow: „Fallschirmseide“,
Verlagsgruppe Random House,
Bertelsmann, Taschenbuch,
256 Seiten, ISBN: 978-3-442-73040-7, 9 Euro.

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