Bücher, die beißen und stechen

TRIER. Was soll ich bloß lesen? Wer sich diese Frage stellt, ist für die Literatur schon halb gewonnen. Jetzt muss der/die Lesewütige nur noch das richtige Buch aus hunderten von Neuerscheinungen und ebenso vielen Klassikern auswählen.

Ein Hilferuf aus einem Internet-Chatroom: "Ich hab Ferien und möchte wenigstens jetzt mal ein anständiges Buch lesen. Aber was??? Ich möchte etwas lesen, wobei ich viel lerne. Was hab ich so für Bücher.... Robinson Crusoe, Onkel Toms Hütte, einige Grisham Bücher. Villeicht ein Buch wo ein Jude seine Kindheit wärend der Nazi-Zeit beschreibt. Der Autor heißt Ivar Buterfas, kennt den einer? Das besondere ist, dass ich von dem das Buch persönlich gekriegt und signiert bekommen habe, als ich mit der Klasse bei einer Autoren Lesung war. Gut wäre aufjedenfall ein Buch, dass Allgemeinwissen vermittelt, wobei ich was hab vom lesen. Was juristisches vielleicht. Also was soll ich lesen???"Wohlmeinende Ratschläge aus dem Internet

Lacht da jemand? Hämisch möglicherweise oder gar herablassend? Reifegeprüfte Besserwisser oder von akademischem Dünkel Geplagte? Ganz falsch, würde Elke Heidenreich, die Lese-Duse des Fernsehzeitalters, jetzt ausrufen, und das völlig zu Recht. Den 19-jährigen Teenager mit einer oberstudienrattigen Antwort abzuspeisen hieße wahrscheinlich, einen Lesewilligen auf immer zu verprellen. Keine Bange - ist nicht geschehen. Der junge Mann hat ein paar wohlmeinende Ratschläge bekommen. Und nach der Aufli-stung einiger Titel immer auch noch einen Tipp zusätzlich: "Bezüglich des Allgemeinwissens: Es ist so ziemlich jedes Buch, was einem was beibringen kann", heißt es in einer Antwort, und in einer anderen: "Ich finde, man sollte sich nicht auf eine bestimmte Stilrichtung fixieren, denn dann kann es passieren, dass man viel lesenswertes verpasst..." Auch ein eher skurriler Hinweis konnte der Fragesteller aus dem Chatroom fischen: "Ab und zu sollte man auch in Bücher schauen die einen gar nicht interessieren! Weil sie langweilig duumm oder einfach nicht intelektuell genug sind! Man sollte mal auch Dinge probieren zu denen man gar keine Lust verspürt ja sogar Abneigung empfindet (wie ich zu Mathebüchern...)". "Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen." Dieser Ratschlag stammt nicht aus dem Inter- net, sondern von Franz Kafka. Kei- ne schlechte Idee - nur: Wie merkt man, wann man von einem Buch gebissen und gestochen wird? Nehmen wir einmal an, der Glücksfall tritt ein, von dem Loriot spricht: "Plötzliche Regenfälle können Menschen zum Betreten einer Buchhandlung zwingen." Jetzt steht die vorm Unwetter geflohene Person im Laden und ist überwältigt von der Fülle des Angebots. Welcher von den tausenden Bänden, die sich noch keusch verschlossen präsentieren beziehungsweise dem Betrachter den Rücken zuwenden, welcher von denen beißt oder sticht? Das hinzukriegen, sollte man meinen, ist zunächst einmal Aufgabe der Werbe- und Grafikabteilung im Verlag, die ein "amuse œuil" entwickeln muss, mit dem der unentschlossene Literatur-Flaneur beim Schlawittchen gepackt werden kann. Parallelen zum zwischenmenschlichen Bereich sind genau in diesem Moment unübersehbar. Wie oft lässt man sich von einem attraktiven Cover zum Zugreifen verführen - und stellt wenig später fest, dass das ausgewählte Objekt im Grunde, also zwischen den Deckeln, von unendlicher Langeweile ist? Umgekehrt verbirgt sich hinter manch graumausiger Fassade ein Unterhaltungsfeuerwerk allererster Güte. Mit anderen Worten: Genau wie im wirklichen Leben trügt auch im erlesenen der erste Eindruck häufig. Natürlich kann man es sich einfach machen und gemäß der Maxime vorgehen "Wer lesen will, muss sehen" - nämlich die Fernsehsendungen der Vor-Leser Heidenreich & Co. Dass diese populären Multiplikatoren von Verlagen wie Autoren hoch geschätzt sind, vor allem, wenn sie ein Produkt aus ihrem jeweiligen Hause beziehungsweise ihrer jeweiliger Feder vorstellen, liegt auf der Hand.Wenn Leser und Buch zueinander finden

Wer besteht nicht ein wesentlicher Teil des Reizes an der Literatur am Zufallsfund? Wenn Leser und Buch sich unerwartet gegenüberstehen und spontan beschließen, die nächsten Tage miteinander zu verbringen und einander die Treue zu halten? In diesem Falle hat das Buch ja ganz kafkaesk schon zugebissen und zugestochen. Natürlich ist man vor Enttäuschungen in keiner Beziehung gefeit - aber wer schon kapituliert, ehe er/sie überhaupt begonnen hat, dürfte manch zauberhafte oder ergötzliche Gelegenheit verpassen. Vielleicht ist genau das der Rat, den der eingangs zitierte Teenager aus dem virtuellen Gesprächszimmer gebraucht hätte: Zieh hinaus in den Buchladen, in dem tausende von Gegenwelten auf dich warten, und reise durch jene, die dir am meisten zusagt. "Vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist", behauptet Elias Canetti. Darin steckt die Erkenntnis, dass Bücher nicht nur das Herz erfreuen und die Seele öffnen, sondern auch den Charakter formen. Und meinen Charakter möchte ich mir schließlich auch nicht von anderen prägen lassen.

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