Das Äquivalent zur Hoffnung

Trier · Zwei Menschen fahren durch die Nacht. Es ist eine Zufalls- oder eine Schicksalsbegegnung, je nachdem, was man lieber möchte. Sie hat sich eine Eieruhr gestellt, die beiden haben genau 60 Minuten Zeit, um sich kennenzulernen.

 Kleiner Zwischenstopp an der Tanke: Ronja Oppelt und Julian Michael Boine.

Kleiner Zwischenstopp an der Tanke: Ronja Oppelt und Julian Michael Boine.

Foto: Vincenzo Laera

Trier. Wer kennt es nicht, dieses wohlige Gefühl, wenn man als Mitfahrer nachts im Auto unterwegs ist und sich eine gewisse Müdigkeit einstellt? Eine bequeme Sitzposition, die Dunkelheit um einen herum, die Welt bewegt sich ohne Zutun. Selten konnte man besser schlafen.
"Das Äquivalent von Hoffnung sollte Schlaf sein", sinniert Fahrerin Nina. Es ist ein Spruch, der ihr gut gefällt, spricht er doch aus ihrem Leben. Die junge Frau fährt immer, wenn sie nicht schlafen kann, mit ihrem Auto durch die nächtliche Stadt. Genau wie in dieser Nacht. Schlaflosigkeit wäre dann gleichbedeutend mit Verzweiflung, so überlegt Nina weiter. Sie stellt sich eine Eieruhr, genau 60 Minuten wird diese ticken, ein Stündlein, in dem Nina nochmal alles ausprobieren kann, nach diesen 60 Minuten muss sie sich schließlich um nichts mehr Gedanken machen. Es ist Ninas letztes Stündlein. Doch Nina ist in dieser letzten Stunde nicht alleine, Jan, ein 28-jähriger Anhalter, leistet ihr Gesellschaft - nebst drei Fremden auf der Rückbank.
"Wovor hast du eigentlich Angst?" heißt das Stück, das an diesem Wochenende im Trierer Theater Premiere feierte. Oder vielmehr nicht im Theater, sondern in einem Auto. Das Stück von Richard Dresser ist speziell für diesen Aufführungsort konzipiert. Ein besonderer, ein dankbarer, ein schwieriger Aufführungsort. Schwierig, weil die Zuschauer hinter den Akteuren auf der Rückbank sitzen müssen, so nicht alles mitbekommen und deswegen die leisen Töne viel mehr wirken können und müssen. Dankbar, weil sich Gefühle und Worte viel leichter, barriereloser, intensiver auf den Zuschauer übertragen lassen. Und besonders, weil das Auto selbst und das Fahren durch die nächtliche Stadt ihre ganz eigene Wirkung erzielen. Besonders wenn man sich spezielle Orte in einer Stadt aussucht. Dann wird die Fahrt mal romantisch, mal magisch und auch gruselig.
Nina und Jan (Ronja Oppelt und Julian Michael Boine) machen Halt unter anderem am verlassenen Restaurant Weisshaus und im stillgelegten Trierer Walzwerk. Dabei klären sie so wichtige Lebensfragen wie "Innenstadtwohnung oder raus aufs Land", "Kaffee oder Kakao?", "Leben oder Nichtleben?", singen "I'm Blue" von Eiffel 65 oder diskutieren, ob Jan seine sterbende Mutter noch einmal besuchen soll. Dabei kommen die jungen Schauspieler emotional vom Hölzchen aufs Stöckchen, ohne das eigentümliche Gefühl von zwei eigentlich Fremden zu verlieren. Zwei, die sich in einem geschützten Raum ihre ganzen Verschrobenheiten erzählen können, die auf der Suche nach Nähe sind, die sie im Alltag nicht herstellen können.
Das Gefühl des Kennenlernens überträgt sich auf den Zuschauer, genauso wie der Grusel im Wald, Angst und Verzweiflung im dunklen, verlassenen Walzwerk, aber auch Zärtlichkeit und Nähe beim ersten Kuss am Weisshaus. Die beiden jungen Schauspieler lassen einen die große, bekannte Welt vergessen in der kleinen, selbst geschaffenen Autowelt.
Die Inszenierung von Damiàn Dlaboha ist spannend, emotional und lückenlos, lässt aber Spielraum dort, wo er gebraucht wird und von den Improvisationen der Schauspieler gefüllt werden kann. Dlabohas Inszenierung verlässt sich auf seine großartigen jungen Schauspieler, bleibt dezent und natürlich, unaufgetragen.
Wer Karten für das Stück ersteigern kann, darf sich glücklich schätzen, denn ihn erwartet ein außergewöhnliches, durchdringendes Theatererlebnis, das in seiner Gesamtheit zu berühren versteht. sbra

Karten für das Stück können über eine Auktion erworben werden, die das Theater 14 Tage vor der nächsten Aufführung öffnet: teatrier.de/ticket-auktion

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