Das drahtlose Jahrhundert

1910 gab der Journalist Arthur Brehmer ein bemerkenswertes Buch heraus: In "Die Welt in 100 Jahren" wagten renommierte Experten der späten Kaiserzeit einen Blick in die ferne Zukunft. Und tatsächlich: Manches, was heute gang und gäbe ist, konnten die Fachleute treffsicher voraussehen, zum Beispiel die moderne Telekommunikation.

Trier. In einem Zuchthaus wartet ein unschuldig Verurteilter auf seine Hinrichtung. Seine Braut fleht darum, die Hinrichtung zu verschieben, ein Gnadengesuch zum Kaiser sei unterwegs. Die Antwort: "Ohne des Kaisers Unterschrift ist kein Aufschub möglich." Die Hoffnung scheint verloren, doch dann greift die Braut zum Telefon, wählt die Nummer des Kaisers - und kurze Zeit später rollt knisternd ein Stück Papier aus einem merkwürdigen Apparat, darauf die Schriftzüge des Kaisers. Die Begnadigung ist unterschrieben, in letzter Minute hat die Heldin die Hinrichtung verhindert.

In dieser herzzerreißenden Geschichte von 1910 ging Experte Robert Sloss zwar wie selbstverständlich davon aus, dass es hundert Jahre später noch Kaiser und Todesstrafe in Deutschland gibt. Ein Irrtum. Dafür aber sah er etwas anders treffend voraus: einen Apparat, mit dem sich Geschriebenes im Nu über eine Leitung übermitteln lässt - das Faxgerät.

Auch eine andere Prognose aus dem Buch "Die Welt in 100 Jahren", das kürzlich vom Olms-Verlag wieder aufgelegt wurde, sollte sich als hellsichtig erweisen. "Sobald die Erwartungen der Sachverständigen auf drahtlosem Gebiet erfüllt sein werden, wird jedermann sein eigenes Taschentelefon haben, durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können", so Sloss.

Ein Taschentelefon für jeden



"Einerlei, wo er auch ist, ob auf der See, ob in den Bergen, ob in seinem Zimmer oder auf dem dahinlaufenden Eisenbahnzuge, dem dahinfahrenden Schiffe, dem durch die Luft gleitenden Aeroplan oder dem in der Tiefe der See dahinfahrenden Unterseeboot."

Zwar war das mit dem Handyempfang im U-Boot zu optimistisch. Hier nämlich spielt die Physik nicht mit, unter Wasser breiten sich Funkwellen schlicht nicht aus. Dafür philosophierte Sloss sinnreich darüber, welche gesellschaftlichen Umwälzungen ein Westentaschen-Telefon mit sich bringen könnte: "Auf Ehe und Liebe wird der Einfluss der drahtlosen Telegrafie ein außerordentlicher sein. Liebespaare und Ehepaare werden nie voneinander getrennt sein, selbst wenn sie Hunderte oder Tausende Meilen voneinander entfernt sind - kurzum, es wird die Glückszeit der Liebe angebrochen sein." Künftig werde sich die Gattin stets davon überzeugen können, was ihr Herr Gemahl gerade treibt - und umgekehrt.

Das aber passt - Sloss mag es geahnt haben - anno 2010 nicht unbedingt jedem in den Kram. Was der Kaiserzeit-Experte nicht wissen konnte: Die Nachgeborenen werden geschickte Täuschungsstrategien entwickeln - Ausreden wie "Funkloch" oder "Akku leer".

Etwas jedoch, was unser Leben heute entscheidend prägt, hatten die Visionäre von 1910 noch nicht vorausgesehen: das Internet. Hier musste man auf die Hellseher des Jahres 1967 warten. Ein US-Film aus jener Zeit zeigt eine amerikanische Vorzeigefamilie, wie sie in ihrem Einfamilienhaus an klobigen Bildschirmen und Tastaturen hantiert, sichtlich beglückt durch die Segnungen der modernen Technik. "Das Einkaufen per Knopfdruck wird eine der Annehmlichkeiten der Zukunft sein", schwärmt der Sprecher. "Eine Videokonsole zu Hause ist mit dem Kaufhaus verbunden. Dort filmt eine Kamera die Ware, zum Beispiel Kleidungsstücke, und schickt das Bild auf den Monitor, so dass man sich zu Hause per Knopfdruck etwas aussuchen kann." Und: Was sich die Frau auf ihrer Konsole ausgesucht hat, kann ihr Ehemann dann auf seiner Konsole bezahlen. Alle Rechnungen werden per Knopfdruck elektronisch überwiesen. Der Bankcomputer bucht sämtliche Ausgaben der Familie ab und schreibt sie den Kaufhäusern gut. Homebanking, so nennt man das heute.

Dann wendet sich der Mann im Film einem raumgreifenden Apparat zu. "Eine elektronische Korrespondenzmaschine", klärt der Sprecher auf. "Sie erlaubt es, eine geschriebene Information sofort, ohne jeden Zeitverzug, zu jedermann auf der Welt zu schicken."

Ganz offenbar der Vorläufer der E-Mail. Allerdings stellte man sich anno 1967 vor, die Mails nicht per Tastatur in den Rechner zu tippen, sondern per Hand mit einem elektronischen Griffel in die Maschine zu kritzeln. Das ist zwar heute technisch schon lange möglich, hat sich aber nie durchsetzen können. Zwar ist nicht jede Vision aus diesem Kapitel Realität geworden, zum Beispiel der drahtlose Luftmotor, durch den Gegenstände so mir nichts, dir nichts durch die Gegend gebeamt werden können. Ansonsten aber sind die hier geschilderten Utopien erstaunlich weitsichtig.

Dieser Beitrag läuft am Dienstag, 7. September, um 16.35 Uhr in der Sendung "Forschung aktuell" im Deutschlandfunk im Rahmen der Reihe "Rückblicke auf die Zukunft". In der Region empfangen Sie den Deutschlandfunk auf UKW 95,4 und 104,6. Weitere Informationen im Netz unter www.dradio.de/utopien

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