Das ganze Elend der Welt

Mit einiger Spannung blickte man im Theater auf die neu eingerichtete Produktion von Georg Büchners "Woyzeck". Die moderne Fassung mit der Live-Musik von Rock-Musiker Michael Kiessling kam gut an.

 Stark: Paul Steinbach, ein Trumm von Schauspieler, schafft das Kunststück, den Woyzeck nicht zu verzärteln und das Publikum trotzdem mitleiden zu lassen. TV-Foto: Friedemann Vetter

Stark: Paul Steinbach, ein Trumm von Schauspieler, schafft das Kunststück, den Woyzeck nicht zu verzärteln und das Publikum trotzdem mitleiden zu lassen. TV-Foto: Friedemann Vetter

Trier. "Call no man happy till he dies", krächzt Michael Kiessling im Eröffnungs-Song mit den Worten von Tom Waits. Glück? Sowas gibt's frühestens im Jenseits, wenn überhaupt. Im hiesigen Leben ist "alles Arbeit unter der Sonn'", sagt Woyzeck, "Schweiß sogar im Schlaf".Das ist der Takt, in dem die neue Trierer Woyzeck-Produktion schlägt. Da ist wenig Hoffnung, null Perspektive. Zumindest für die, die im Sperrmüll hausen und in blauen Abfalltüten nach Verwertbarem suchen. Nichts, woran man sich festhalten könnte, stattdessen kalte, unnahbare Stahlträger. Das könnte eine stillgelegte Industriehalle sein, oder eine Autobahn-Unterführung - jedenfalls ein unwirtliches, lebensfeindliches, stimmungsvoll skizziertes Ambiente (Bühnenbild: Katinka Eichler, Kostüme: Regina Casel/Tessa Marks). Bei Bedarf verwandelt es sich unversehens in einen medizinischen Hörsaal, in dem ein grandios zynischer Arzt (Klaus Michael Nix) in der Montur des Plastinators Gunther von Hagens dem voyeuristischen Publikum seine Versuchskaninchen vorführt.Wahn, Eifersucht, und Brutalität

Doch, doch: Das ist Büchners "Woyzeck", was es in Trier zu sehen gibt. Wort für Wort. Und, wichtiger noch: Exakt im Sinn des Autors. Büchner hat mit seiner Titelfigur keinen Mitleid erregenden Leidensmann gezeichnet, der lediglich passives Opfer einer feindlichen Welt ist. Seinen Wahn, seine Eifersucht, seine Brutalität unterschlägt Gerhard Webers Inszenierung nicht. Und der starke Paul Steinbach, ein Trumm von Schauspieler, schafft das Kunststück, den Woyzeck nicht zu verzärteln und das Publikum trotzdem mitleiden zu lassen.Seine Freundin Marie (eminent kraftvoll: Sabine Brandauer), die er schließlich umbringt, ist eine selbstbewusste, ihre Interessen verfolgende Figur, für die das gemeinsame Kind buchstäblich ein lästiges Anhängsel bleibt.Es geht nicht um Schuld oder Moral. Die Welt, die Büchners Personal bewohnt, ist so konstruiert, dass etwas anderes als Elend gar nicht möglich ist. "Misery's the river of the world", heißt das bei Kiessling/Waits, und Weber lässt dazu die Protagonisten sich wechselseitig massakrieren. Auch sonst findet er für das Elend überzeugende aktuelle Bilder. Der Streit zwischen Woyzeck und Marie etwa ist inszeniert wie der Showdown in einer der unsäglichen Mittags-Talkshows.Video-Einblendungen im Bühnen-Hintergrund

Für die Anbindung von Büchners Texten an die Jetztzeit sorgen auch die verfremdeten Video-Einblendungen im Bühnen-Hintergrund. Szenen aus dem Wahnsinn des Alltags, vom Getümmel in einer Einkaufszone über die Verhaftung jugendlicher Amokläufer bis zum "Wort zum Sonntag" mit dem Trierer Fernsehpfarrer Wahl. Stumm kommentieren und kontrastieren sie die Lieder von Tom Waits und Nick Cave, deren ganze Zerrissenheit Michael Kiessling, über die Bühne wandernd, großartig einfängt, exzellent begleitet von Matthias Behrsing, Fred Noll, Jens Saleh, Stephan Völpel und Martin Form.Das verdichtet sich zu einem packenden, ins Depressive tendierenden Stimmungsbild, dem es aber auch nicht an bizarrer, ins Absurde reichender Komik fehlt. Bei Manfred-Paul Hänig, Peter Singer und Michael Ophelders ist sie in besten Händen. So wie die weiteren Rollen bei Tim Olrik Stöneberg, Angelika Schmid, Marc Sascha Migge und Fabian Joel Walter, die exakt choreographiert und durchrhytmisiert agieren.In einigen Momenten verliert das Stück seine Mitte. Die Text-Musik-Kombination von Dramaturg Peter Oppermann funktioniert, so lange die Musik am Text bleibt, sei es illustrierend oder kontrastierend. Aber da will man noch ein bisschen Musical aufpfropfen, ein Häppchen Revue, eine Prise Rocky Horror. Unnötig. Am Ende macht Woyzeck tabula rasa. Er mäht alles nieder, sogar den Sänger. Der singt übrigens gerade Dylans "Death is not the end" - ein in seinem Zynismus atemberaubend unversöhnliches Finale. Aber leider traut man sich nur halb: Es folgt noch eine begütigende Zugabe. Insgesamt trotzdem mutiges, spannendes Theater. Und eine beispielhafte Zusammenarbeit von Theaterleuten, Musikszene und hochtalentierten FH-Studentinnen. Am Ende holt das Publikum tief Luft, bevor sich die Spannung in reichlichem Beifall entlädt. Kein Unmut, trotz mancher Wagnisse auf der Bühne. Triers Schauspiel wird erwachsen, sein Publikum auch. UMfrage Norbert Knauf, Trier: Ich bin mit hohen Erwartungen gekommen und bin begeistert von der musikalischen Untermalung, der Idee, überhaupt der ganzen Inszenierung und nicht zuletzt vom aktuellen Bezug zur Gegenwart. Sehr groß. Elke Boné, Karin Otto, beide Trier: Einfach grandios, ohne Wenn und Aber. Alle Schauspieler haben Außerordentliches geleistet. Gewagt für's Trierer Publikum, aber gelungen. Ein sehr ausdrucksstarkes Spielen von menschlichen Abgründen. Ein sehr gutes Zusammenspiel zwischen Inhalt und der musikalischen Ergänzung. Modern, ergreifend, unter die Haut gehend. Thomas Müller, Freiburg: Ein kurzweiliger Anfang. Zur Hälfte wurde es etwas langatmiger. Michael Kiesslings Stimme einfach sagenhaft, durchaus mit Nick Caves Stimme zu verwechseln. Die Brisanz des Stücks immer noch aktuell. Umfrage und TV-Fotos: Ludwig Hoff

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