Das Naturereignis

Bernkastel-Wehlen · Sie schickt sich an, in die Phalanx der Netrebkos und Bartolis einzudringen: Simone Kermes, Stimmwunder und Bühnen-Exzentrikerin, wurde im Kloster Machern allen Vorschusslorbeeren mehr als gerecht - und zertrümmerte doch manche Vorurteile.

Bernkastel-Wehlen. Die "Crazy Queen of Baroque" hält Hof. Die verrückte Sängerin mit dem breit ausgestellten Barockkleid, das so geschnitten ist, dass es den Blick auf einen Minirock und Highheels mit gefühlten 18 Zentimeter hohen Absätzen freigibt. Und auf zwei wohlgeformte Beine, von denen das eine immer einen halben Schritt nach vorne steht. Abteilung Attacke. Achtung, ihr Vivaldis, Händels und Porporas, wir kommen!
Das ist der Ruf, der Simone Kermes vorauseilt und den sie mit sichtlichem Vergnügen pflegt. Aber wer nicht nur schaut, sondern auch hört, der entdeckt etwas ganz anderes. Fein modulierte Vokalisen, enorme Gestaltungsmacht, sorgfältige Intonation. Natürlich auch effektvolle Emotionen, die aber nie die Regeln des Barockgesangs verletzen, dessen Grenzen sie auslotet, ohne sie zu überschreiten.
Ein Wunder: die Innigkeit und Konzentration, mit der sie die leisen, traurigen Arien interpretiert. Da wird die Stimme fast chansonhaft leicht, da ist noch das winzigste Pianissimo punktgenau fokussiert. Da ist null Show, kein Millimeter Platz zwischen der Interpretin und dem Stück. Und wenn sie bei den Zu gaben Händels "Lascia ch\'io pianga" singt, dann ist das von einer ebenso schlichten wie rührenden Intensität, die unter Umgehung des Gehirns sofort das Gefühlszentrum des Zuhörers erreicht.
Halsbrecherische Töne


Natürlich gibt\'s auch die andere Simone Kermes. Jene, die Koloraturen in den Raum schießt wie Feuerwerkskörper - auch wenn man ihren halsbrecherischen Tönen die Arbeit, die dahinter steckt, eine Spur stärker anhört als der Bartoli. Jene, die Vivaldis Motetten entmottet, sie ins Weltliche zurückholt. Ihr ekstatisches "O Jesu" ist kein Gebet, sondern ein Aufschrei von Maria Magdalena. Vor allem aber empfindet sie Barockmusik als Rhythmus. Da vibriert nicht nur sie, da vibrieren auch die Musiker des brillanten jungen Orchesters La Folia, die mit jedem Ton fiebern, die virtuos das Tanzbare aus der alten Musik herauskitzeln.
Und dann kann auch Simone Kermes nicht stillhalten, die Beine geben den Takt vor, der Oberkörper pendelt, die Haare fliegen. Aber wer ist bloß auf den von Journalisten gerne zitierten Spruch von der "Lady Gaga der Klassik" gekommen? Was hat Simone Kermes mit dieser künstlichen Tanzmaus und ihren einstudierten Bewegungen zu tun? Wenn man einen Vergleich aus der Popwelt heranziehen will, dann schon die urwüchsige Energie der frühen Tina Turner.
Irgendwann hört man auf mit der Suche nach Vergleichen, lässt sich wie die Sängerin nur noch treiben. Freut sich, wenn die Kermes dem Erklimmen des nächsten Koloratur-Gipfels schon einmal ihr triumphierendes Lächeln vorausschickt. Oder sich mit dem Konzertmeister abklatscht wie zwei Basketballer nach einem gelungenen Pass. Oder mit zwei Damen aus der ersten Reihe tanzt.
120 Minuten dauert das Naturereignis, zwei Lehrstunden in der Kunst der Überwältigung. Puristische Spaßbremsen mögen Einwände haben, aber die gibt es an diesem Abend im Kloster Machern nicht. Wenn am Schluss jemand verrückt ist, dann das Publikum, das sich wie von Sinnen Zugaben erklatscht.
Die schönste hat Festspiel-Macher Hermann Lewen fürs Ende aufgehoben: Simone Kermes kommt wieder. Am 8. August 2014 open air im Kurfürstlichen Palais in Trier.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael Bolton Vom erwischt werden
Aus dem Ressort