Das verführerische Prinzip Sündenbock

Religion kann als Propaganda missbraucht werden, um Menschen auszugrenzen und zu Sündenböcken zu erklären. Dann leben sie in der Gefahr, dass sich die Aggressionen einer Gruppe gegen sie entladen. Es kommt zu Pogromen.

 „Der Sündenbock“: Gemälde aus dem Jahr 1854 von William Holman Hunt (1827-1910). Foto: akg-images

„Der Sündenbock“: Gemälde aus dem Jahr 1854 von William Holman Hunt (1827-1910). Foto: akg-images

Das Verdrängen von Schuld ist eine alte Geschichte. Erzählt wird sie in der Bibel im Buch Levitikus. Da befiehlt Gott Moses\' Bruder Aaron, am Tag der Sühne zwei Böcke zu markieren und deren Schicksal auszulosen: Eines der Tiere wird dem Herrn geopfert. Dem anderen soll Aaron die Hände auflegen und alle Sünden seines Volkes auf den Bock übertragen, indem er die Frevel und Fehler seines Volkes ausspricht.
Ein Mann wird das beladene Tier dann hinaustreiben in unbewohntes Gelände. So wird die Sünde in die Einöde verfrachtet. Dahin, wo sie niemandem schaden kann. Die Juden feiern das bis heute am Versöhnungstag, an Jom Kippur.serie glaube und gewalt


In der Bibel ist die Idee vom Sündenbock eine Befreiung. Eine Gemeinschaft entledigt sich in einem augenfälligen Ritual aller Zwietracht, die Gewalt in die Gruppe tragen könnte. Sie treibt die Sünde physisch aus dem Dorf und macht sie dadurch unschädlich. Die zurückbleiben, sind gereinigt und geeint. Gemeinsam stoßen die Mitglieder einer Gruppe in einem Akt kollektiver Gewalt ein Wesen aus ihrer Mitte, schicken es in die feindliche Wüste.
Durch die Opferung des Sündenbocks wird Gewalt also kanalisiert. Sie droht nun nicht mehr unkontrolliert innerhalb der Gemeinschaft auszubrechen, sondern hat sich nach außen entladen und dient der Einigkeit.
"Sündenbockmechanismus" nennt das die Soziologie und untersucht, wie sich das religiöse Ritual im gesellschaftlichen Miteinander verselbständigt hat. Und auch die Theologen beschäftigt das Phänomen. Der französische Religionsphilosoph René Girard etwa hat in seinen Schriften herausgearbeitet, wie der Sündenbock-Mechanismus Gruppen nach innen Eintracht und Frieden beschert.Verführerische Idee


Allerdings hat das seinen Preis: Denn der Sündenbock ist ja unschuldig, er wird allein deswegen zum Opfer, weil eine Gemeinschaft ihn für böse erklärt. Ein Sündenbock könnte demnach kein Sündenbock mehr sein, wenn Menschen sich seine Unschuld bewusst machen würden. Der Mechanismus verliert also seine Wirkung, sobald man ihn durchschaut.
Doch die Idee vom Sündenbock ist verführerisch. Denn sie entlastet, sie macht die undurchsichtige Wirklichkeit scheinbar überschaubar, gibt schlichte Erklärungen für Zustände, die Ohnmachtsgefühle auslösen.
Wie im Mittelalter, als in Mitteleuropa die Pest wütete und die Menschen sich ausgeliefert fühlten an den Tod. Sie sehnten sich nach einer Erklärung, nach einem Schuldigen, der sie davor bewahren würde, dem Nihilismus des willkürlichen Sterbens zu begegnen. Schon vorher hatte sich die antijüdische Verschwörungsmär verbreitet, Juden vergifteten die Brunnen und seien daher Schuld an der Pestepidemie. Als Geldverleiher waren sie ohnehin verhasst, als religiöse Gruppe klar erkennbar. Außerdem wurden jüdische Viertel wegen der strengen Reinheitsgebote, die ihre Bewohner befolgten, manchmal verzögert von der Pest befallen, das machte diese Bevölkerungsgruppe zusätzlich verdächtig.
So war der Sündenbock gefunden, auf den sich alle Aggressionen, alle Verzweiflung lenken ließen, und die bereits vorhandenen antisemitischen Stimmungen mündeten ab 1348 in die Pestpogrome. Juden wurden ermordet, verbrannt, ganze Gemeinden ausgelöscht - zum Teil auch bevor diese Orte überhaupt von der Pest erreicht wurden.
Die christliche Ideologie jener Zeit hatte dem Ausbruch der Gewalt den Weg geebnet. Die Juden wurden diffamiert als "Gottesmörder", weil sie den Tod Jesu am Kreuz gefordert hätten. Dass Jesus selbst Jude war, sollte keine Rolle spielen. So kann Religion missbraucht werden als Ideologie zur Ausgrenzung Andersgläubiger und damit die Voraussetzung liefern für Pogrome. Denn die richten sich immer gegen willkürlich ausgemachte Opfergruppen, die zunächst mit propagandistischen Mitteln verdächtig gemacht werden. Erst die Herabwürdigung mobilisiert jene aggressiven Kräfte, die Menschen gegen ihresgleichen wüten lässt.
So unterscheidet sich das Pogrom etwa von tödlicher Gewalt im Krieg, in dem Soldaten gegeneinander ausgesandt werden, um die Interessen ihrer Nationen durchzusetzen oder ihr Territorium zu verteidigen. Beim Pogrom entlädt sich die Aggression ungeordnet gegen wirkliche oder erfundene Gruppen, die zu Feindbildern aufgebaut werden. Ein beliebiger Kreis von Menschen wird ausgeschlossen, mit menschenverachtenden Etiketten versehen und willkürlicher Gewalt überlassen.
Religion kann ein mächtiges Mittel sein, um Menschen in feindliche Lager zu teilen, um sie ideologisch aufzuhetzen und ihnen höhere Gründe zu geben, die Gewalt scheinbar rechtfertigt. Doch genauso können politische Ideologien Menschen zu Übergriffen gegen andere anstacheln.Pogrome und Propaganda


Die Pogrome gegen Juden während des Nationalsozialismus sind nur ein Beleg. Sie waren Schritte auf dem Weg zur systematischen und massenhaften Ermordung von Menschen, denen die Herrschenden das Lebensrecht, ja das Menschsein abgesprochen hatten.
Dem Pogrom voraus geht immer die Propaganda: Menschen werden aufgehetzt, verführt oder gezwungen, eine bestimmte Weltsicht absolut zu setzen. Dann gibt es kein kritisches Denken, kein Abwägen mehr, und jene, die zu Sündenböcken erklärt werden, müssen um ihr Leben fürchten. Vor der Barbarei schützt nur Aufklärung, die Einsicht, dass der Sündenbock ohne Schuld ist. Doch diese Erkenntnis ist nie auf ewig gewonnen. Es gilt, sie zu verteidigen. Immer wieder neu.
Dorothee Krings ist Redakteurin der Rheinischen Post. In der Serie "Glaube und Gewalt" wird der Trierische Volksfreund in den nächsten Wochen weitere Essays zu diesem Thema veröffentlichen.

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