Archäologie Das geheime Lager der Trierer Antikenwächter

Trier · Scherben, Schädel und verschüttete Kunst: In den Depots des Rheinischen Landesmuseums lagern mehr als zehn Millionen Funde. Und es werden immer mehr. Verblüffend, dass die Archäologen ständig neue Erkenntnisse zutage fördern – und wie oft der Zufall ihnen zu Hilfe kommt.

  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
 Diese filigran gearbeitete Hand fanden Archäologen im antiken Gräberfeld. Die beiden Ringe deuten auf den Reichtum der Grabinhaberin. Bemerkenswert und selten sind laut Grabungsleiter Joachim Hupe die Farbreste an den Nägeln. Der Rest des vermuteten Hochreliefs fehlt.

Diese filigran gearbeitete Hand fanden Archäologen im antiken Gräberfeld. Die beiden Ringe deuten auf den Reichtum der Grabinhaberin. Bemerkenswert und selten sind laut Grabungsleiter Joachim Hupe die Farbreste an den Nägeln. Der Rest des vermuteten Hochreliefs fehlt.

Foto: Anne Heucher

Als ich für diese Recherche ins Auto steige, weiß ich nicht, wohin der Termin mich führen wird. Vorne sitzen Marcus Reuter, Direktor des Rheinischen Landesmuseums Trier, und Joachim Hupe, der Leiter der Archäologischen Denkmalpflege, vor dessen Füßen es sich auch Cora bequem macht, Reuters Hündin. Ich habe versprochen, den Ort geheim zu halten, an den wir fahren. Den Ort, wo all die Dinge liegen, die bei archäologischen Grabungen aus der Erde geborgen wurden. Römische Vasen, Skelette, Lampen, Schmuck, Scherben und vielleicht Schätze aus Silber oder Gold. „Es sind geschätzt zehn bis zwölf Millionen Funde eingelagert“, sagt Reuter. „Und es wächst jede Woche.“ Und weil der Keller im stattlichen Museumsbau am Trierer Palastgarten längst aus allen Nähten platzt, liegt ein Teil der Funde weiter außerhalb in Depots, die nur wenigen Berechtigten zugänglich sind.  Seit dem versuchten Raub des Trierer Goldschatzes vor zwei Jahren legt das Land  noch mehr Wert auf Sicherheit.

Cora scheint es nicht sonderlich spektakulär zu finden, als Herrchen die Halle aufschließt. Drinnen türmen sich Schachteln diverser Größen in langen Regalreihen, stapeln sich Kisten mit Knochen, Schädeln, Schmuck und dem, was Ausgräber aus dem Boden geholt und bereits gereinigt haben. Es ist kühl. Vereinzelt liegen größere Steinbrocken herum.  Hier werden die Funde nicht nur verwahrt, sondern harren zunächst darauf, dokumentiert, ausgewertet und veröffentlicht zu werden.

„Es gibt mehr Grabungen, als wir momentan auswerten können“, erklärt Reuter. Der Bauboom rufe ständig neue archäologische Untersuchungen auf den Plan, sogenannte „Notgrabungen“. Dabei sei es fachlich gesehen umso besser, „je mehr wir für die Nachwelt im Boden lassen“, weil künftige Generationen viel mehr aus den Funden werden lesen können als wir heute. Schließlich sei jede Grabung „eine endgültige Zerstörung“.

Mitten im Raum steht ein besonderes Stück aus den jährlich rund 30 Grabungen des Museums. Hupe hebt ein dünnes Tuch von dem hellen Torso aus Kalkstein. „Sehen Sie hier die Sonnenuhr“, zeigt er und kann das schwere Stück Stein gleich zum Sprechen bringen. „Das ist offensichtlich ein Barbar, nackt, man erkennt Gesicht, Hand und Finger, die Füße sind nach hinten zurückgeschlagen. Gucken Sie auf die Fußsohle! Er kniet und hält eine Sonnenuhr.“ Das Relief ist Teil eines Grabmals gewesen, das Archäologen 2016/17 auf dem römischen Gräberfeld an der heutigen Paulinstraße aus der Erde geholt haben. „Sehr individuell, nicht Schema F“, weiß der Experte, der das Denkmal in die Mitte des ersten oder die zweite Hälfte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts datiert. Ein Beleg dafür, dass hier bereits eineinhalb Generationen nach der Stadtgründung ein Friedhof existierte. Und der Hieb mitten durch den Torso erzählt vom vergeblichen Versuch in späteren Jahrhunderten, den Stein so weit zu zerkleinern, dass er fürs übliche Recycling taugte. Nebendran etwa lagen südspanische Weinamphoren, die zu Gefäßen für Urne und Grabbeigaben umfunktioniert wurden. Dafür hat man sie einfach wie ein Ei geköpft. Wenn diese Grabung mit dem Torso publiziert werde, hofft Hupe, „findet vielleicht ein kluger Kopf noch eine genaue Parallele“.

Auf derlei Zufälle scheint man in der Archäologie immer wieder zu hoffen. Geradezu verrückt ist die Geschichte der Livia-Skulptur aus einer Grabung bei St. Maximin, deren halber überlebensgroßer Kopf etliche Jahre in einem Depot schlummerte, bis er nebenbei in einem Vortrag an der Uni erwähnt wurde. Im Publikum, erzählt Reuter, saß der luxemburgische Archäologe Jean Krier, der sich daran erinnerte, dass es einen ähnlichen halben Kopf früher einmal eingemauert über dem Türeingang eines Barockhauses in Luxemburg gab. Krier fuhr nach Luxemburg, holte den Kopf aus dem Museum, brachte ihn nach Trier und – siehe da, er passte auf die andere Hälfte. „Eine geniale Entdeckung des Kollegen“, sagt Hupe.

Wie viele Livias mögen in den Depots wohl noch darauf warten, wachgeküsst zu werden? Die eine hat mittlerweile Karriere gemacht. Die Eigentümer – das Nationalmuseum Luxemburg und das Museum am Dom in Trier – haben jeweils eine Kopie der fehlenden Seite bekommen, das Landesmuseum hat den Kopf im Rahmen der „Spot an“-Wanderausstellung auf Tour geschickt, wo er überall ins Bewusstsein ruft, dass die älteste Stadt Deutschlands von Livias Ehemann Kaiser Augustus gegründet wurde. Auch der Trierer Oberbürgermeister Wolfram Leibe hat sich einen solchen Kopf ins Dienstzimmer gestellt.

Zurück zum Depot, wo die jüngsten Grabungen noch ausgewertet werden müssen. Allein bei den Arbeiten auf dem Gräberfeld an der Paulinstraße 2016/17 und 2017/18 kam eine riesige Fundmenge zusammen – „800 Kisten, die jetzt zu bearbeiten sind“, erklärt Hupe, dessen Grabungsteam etwa 25 Leute umfasst, und fügt wegen des Aufwands hinzu: „leider“. Dabei kamen unerwartet viele Körpergräber zum Vorschein, von denen – sehr selten – mehr als ein Drittel auf dem Bauch lag. Dazu Unmengen an Grabbeigaben, vom Schmuck bis zum Lämpchen. All das muss akribisch beschriftet und dokumentiert werden, damit Externe das nachvollziehen können. Längst hat man die Fehler der Vergangenheit überwunden, als man ergrabene Skelette aus Pietätsgründen wieder beigesetzt und damit die weitere Forschung unmöglich gemacht hat. Jetzt wird jede Bodenschicht dokumentiert, nicht nur die römische.  Rätsel müssen nicht gleich gelöst, aber doch in die Welt gebracht werden. „Sonst ist die Grabung wissenschaftlicher Totalschaden“, sagt Reuter.

Die ungeheuren Mengen – sie sind Segen und Fluch zugleich. In Trier ist bei archäologischen Schätzen alles XXL. „Köln hat vier oder fünf Mosaike, wo Trier über 100 hat“, so Reuter. „Das spiegelt sich auch in den Depots wider.“ Nirgends sonst gibt es eine so große antike Münzsammlung, nirgends mehr Goldmünzen, mehr Bleisiegel oder Warenetiketten – „da ist Trier schon das Maß aller Dinge“, sagt Reuter. Und „zwei Drittel aller Mosaiken aus dem Areal des römischen Deutschland lagern bei uns“, ergänzt Hupe. Köln hatte 96 Hektar, Xanten 73 und Trier 284 Hektar – die größte römische Stadt nördlich der Alpen.  Und dann sagt Reuter den schönen Satz einer Bonner Kollegin, den viele Gäste seiner Führungen immer wieder zu hören bekommen: „In Trier lernt man Demut.“

Umgekehrt besehen muss man aufpassen, dass Highlights nicht untergehen. „Wir sind sehr großzügig bei Dauerleihgaben“, nennt Reuter eine Konsequenz. Ob Rathaus, Polizei oder Landgericht – für jede vertrauenswürdige Einrichtung sei in den Depots genug da. Zudem setzt der Museumschef seit vielen Jahren darauf, Forschungen an Land zu ziehen. Derzeit laufen 24 wissenschaftliche Projekte zu Funden und Ausgrabungen aus der Region, darunter zu römischen Relikten aus der Mosel, den Töpfereien rund um Speicher und Herforst oder dem römischen Militärlager auf dem Trierer Petrisberg. Allein drei Millionen Euro Drittmittel hat das Landesmuseum in den vergangenen neun Jahren für Forschungsprojekte eingeworben. Klar ist dabei, dass von den Millionen Funden nur 4000 bis 5000 in der Dauerausstellung gezeigt werden können, egal wie fantastisch sie sein mögen.

Wenn man die langen Regalreihen mit den grauen Pappschachteln abläuft, kann man die Schätze darin nicht erahnen. Dabei erstaunt, wie oft Archäologen in Trier zu spektakulären neuen Erkenntnissen kommen. Vor fünf Jahren war das Alter der Porta Nigra noch nicht bewiesen, die dendrochronologische Datierung eines Rüstholzes im Fundament der Stadtmauer Anfang 2018  „ein Meilenstein“. In den ersten zwei, drei Wochen hätte Experten noch befürchtet, dass die Grabung ein Flop werde, erinnert sich Reuter, und sie hätten Wetten auf das Alter des Holzes abgeschlossen. Auch die Identifizierung der marmornen Wandverkleidungen in der Konstantinbasilika war eine Sensation: Der aus dem Ruwertal stammende Diabas-Stein wurde in den päpstlichen Lateranpalast in Rom ebenso geliefert wie nach Spanien. „Das muss ein richtiger Exportschlager gewesen sein“, so Reuter. „Das war vorher überhaupt nicht bekannt. Man hat vermutet, dass die grünen Steine aus Ägypten kommen.“ Dass sie aus dem Ruwertal stammen, weiß man erst seit drei Jahren. Wieder ein Grund, die Funde nicht in den Schachteln ruhen zu lassen.

Was kommt noch? Für beide Archäologen jedenfalls ist die Arbeit in Trier ein Privileg. „Trier ist für einen römischen Archäologen das Non plus Ultra“, formuliert es Reuter, der schon in allen Bundesländern gearbeitet hat, wo die Römer waren, „da gibt’s in Deutschland nichts Vergleichbares.“ Man müsse aufpassen, angesichts des Reichtums nicht abzustumpfen. Dazu sei wichtig, sagt Hupe, „dass das Material nicht in den Magazinen vor sich hindämmert, sondern weiter erschlossen wird“.

  
  
 Bild links: Alles hat hier seine Ordnung: Für Knochen wie diese gibt’s spezielle Schachteln, die genau beschriftet werden, um sie einer Grabung und einem Fundort zuordnen zu können. 
  
 Bild rechts: Unter dem Schleier, den Landesmuseumsdirektor Marcus Reuter (rechts) und Grabungsleiter Joachim Hupe heben, kommt ein Torso aus hellem Kalkstein zum Vorschein, offenbar der Rest eines Grabdenkmals auf dem nördlichen Gräberfeld in Trier. Auf der Skulptur ist eine Sonnenuhr erkennbar. Sie wurde offenbar übel zugerichtet und mutwillig gespalten, wohl um den Stein später für andere Zwecke zu verwenden.

Bild links: Alles hat hier seine Ordnung: Für Knochen wie diese gibt’s spezielle Schachteln, die genau beschriftet werden, um sie einer Grabung und einem Fundort zuordnen zu können. Bild rechts: Unter dem Schleier, den Landesmuseumsdirektor Marcus Reuter (rechts) und Grabungsleiter Joachim Hupe heben, kommt ein Torso aus hellem Kalkstein zum Vorschein, offenbar der Rest eines Grabdenkmals auf dem nördlichen Gräberfeld in Trier. Auf der Skulptur ist eine Sonnenuhr erkennbar. Sie wurde offenbar übel zugerichtet und mutwillig gespalten, wohl um den Stein später für andere Zwecke zu verwenden.

Foto: Anne Heucher
 Steine, Schädel und verschüttete Kunst

Steine, Schädel und verschüttete Kunst

Foto: Anne Heucher
  
  
 Diese Figur aus Ton hat sich ein erwachsener Mann mit ins Grab geben lassen. Darauf steht „Flama“, der Künstlername eines Gladiators. Der rote Ton deutet auf eine regionale Herstellung. Laut Grabungsleiter Hupe handelt es sich wohl um eine Devotionalie, die bei Gladiatorenspielen im 3. Jahrhundert ausgegeben wurde und einen bestimmten Gladiator aufwertete.

Diese Figur aus Ton hat sich ein erwachsener Mann mit ins Grab geben lassen. Darauf steht „Flama“, der Künstlername eines Gladiators. Der rote Ton deutet auf eine regionale Herstellung. Laut Grabungsleiter Hupe handelt es sich wohl um eine Devotionalie, die bei Gladiatorenspielen im 3. Jahrhundert ausgegeben wurde und einen bestimmten Gladiator aufwertete.

Foto: Anne Heucher
  
  
  
 Krüge wie diese haben die Römer oft recycelt. Waren sie zunächst Weinamphoren oder Flaschen mit Olivenöl, die aus Spanien an die Mosel verschifft wurden, nutzte man sie später als Gefäß für Urne und Grabbeigaben.

Krüge wie diese haben die Römer oft recycelt. Waren sie zunächst Weinamphoren oder Flaschen mit Olivenöl, die aus Spanien an die Mosel verschifft wurden, nutzte man sie später als Gefäß für Urne und Grabbeigaben.

Foto: Anne Heucher

Als wir die Halle schließen, räumt Hupe noch ein paar herumliegende Stücke und Werkzeuge der Ausgräber auf. Noch ist hier Platz für neue Bodenfunde. Aber in zwei, drei Jahren, versichert Reuter, wird auch diese Halle voll sein. Dann müssen neue Depots gefunden werden.

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