Der Mann, mit dem jeder gerne Kirschen isst

KÖLN. Keine Blumen und keine Schokolade: Der letzte "Boulevard Bio" endete wie alle 484 zuvor. Abgesehen davon, dass WDR-Intendant Fritz Pleitgen am Ende dem Moderator den Stuhl schenkte, auf dem er zwölf Jahre lang gesessen hat.

Bei solchen Gelegenheiten greifen Chronisten gern in die Kiste mit den großen Worthülsen: "Eine Ära geht zu Ende" beispielsweise oder "Ein Kapitel Fernsehgeschichte wird abgeschlossen".Stimmt ja auch. Zahlen gefällig? Ziemlich genau zwölf Jahre ist er regelmäßig dienstags um 23 Uhr- abgesehen von den Sommerpausen - über seinen Boulevard gebummelt und hat an 485 Abenden die Stühle für rund 1600 Gäste aufstellen lassen. Gut zwei Millionen Zuschauer saßen durchschnittlich vor den Bildschirmen, manchmal zweieinhalb. Die Themen reichten von Gott und die Welt bis zu Tod und Teufel. Aids war ebenso wenig Tabu wie Homos und Huren - Gesprächsstoffe mithin, bei denen sich auch in den Schmuddel-Talks der Privatsender Proll und Plebs die Seele aus dem Leib brüllen.Dem guten Ruf des Genres verpflichtet

Doch halt: Alfred Bioleks "Boulevard" mit derlei Reklame-unterbrochenem televisionärem Gestammel in Zusammenhang zu bringen, wäre geradezu frevelhaft. Der Mann hat schließlich Stil, Kultur und Anstand und ist, quasi als einer der Miterfinder des Genres im deutschen Fernsehen - vom "Kölner Treff" (1976-1980) über "Bio‘s Bahnhof" (1978-1985) bis "Mensch Meier" (1985-1991) - dem guten Ruf der Gattung irgendwie verpflichtet.Wer Bio gegenübersaß, brauchte nichts zu befürchten. Niemals hat Alfred Franz Maria Biolek, Jahrgang 1934, einen Gast ins Messer laufen lassen. Der sanfte Talker war stets ein Musterbeispiel an Ver-ständnis, egal, was die Gesprächspartner enthüllten. Wenn‘s dann mal tatsächlich ans seelisch Eingemachte ging, wurden die Augen hinter den runden Brillengläsern groß, und sein Gesicht verwandelte sich in eine Landschaft von Sympathie und Mitgefühl. Und häufig hörte man, während die Kamera den Gast ins Bild nahm, aus dem Off Bios Kommentare, ein genuscheltes "Ogottogott" und "Ja natürlich, wirklich schrecklich". Vielleicht liegt auch darin das Geheimnis seines Erfolges: Mit dem Mann war immer gut Kirschen essen, egal, wie sauer sie waren. Stets zog er im richtigen Moment den Zucker aus der Tasche, und alles wurde gut.Doch was heißt schon Enthüllen: Nie hat einer bei Biolek etwas preisgegeben, was ihm hinterher hätte Leid tun müssen - weder Helmut Kohl noch Franz Beckenbauer, Affären-gestählte Show-Profis, Margarethe Schreinemakers nicht, die sich selbst den Fernseh-Todesstoß versetzt hat. Sogar Yellow-Press-Objekte wie Monica Lewinsky oder Verona Feldbusch nimmt er ernst und gibt ihnen damit einen Teil ihrer Würde zurück, die ihnen, selbst- oder fremdverschuldet, in den Klatschspalten der Boulevard-Presse abhanden gekommen ist.Oft interessanter jedoch als die Promis, von denen man ohnehin schon alles weiß oder zu wissen glaubt, waren jene Menschen, die fernab von Glanz und Glamour ein unbeachtetes Leben führen und dennoch oft Spannenderes, Lustigeres, Anrührenderes zu berichten hatten als Models und Mimen. Gerade bei jenen, die sich nicht so professionell verkaufen können, zeigte sich die Talkmeisterschaft des promovierten Juristen, der auch verschlossenere Zeitgenossen oft in informationsfreudige Gesprächspartner verwandeln konnte - vor allem, wenn sie merkten, dass Bioleks Engagement und Interesse nicht gespielt war. Was immer wieder passierte, wenn es um heikle Themen wie Tod ("Wie wir sterben", "Aids - der einsame Tod"), Behinderte ("Ich stottere", "Das mach‘ ich blind"), gesellschaftspolitisch Brisantes ("Der Stammtisch der Überlebenden - Jüdische Emigranten") oder Menschen vom Rand der Gesellschaft ging ("Frauen hinter Gittern", "Beruf: Hure")."Mein Gott, Sie wechseln aber häufig das Thema"

Zwölf Jahre und 485 Sendungen - Zeit und Zahlen verlangen ih- ren Tribut. Zuletzt waren die Fragen etwas beliebig geworden, schleppte sich manche Talkrunde mühsam dahin, fiel Biolek seinen Besuchern ungeduldig ins Wort. "Mein Gott, Sie wechseln aber häufig das Thema", warf ihm eine mehrfach im Satz unterbrochene Gunilla von Bismarck vor, die in einer der letzten Sendungen bei Bio zu Gast war.25 000, vielleicht 30 000 Fragen an rund 1600 Gäste - da sind Wiederholungen nicht auszuschließen.Wenn Bio zu Beginn des Gesprächs auf seinem Stuhl hin und her rutschte und die Hände rang, wenn der Zuschauer sich daheim im Wohnzimmer vorbeugte in gespannter Erwartung auf die Bombe, die da gleich hochgehen würde, kam am Ende oft nichts anderes heraus als die Frage "Wie geht es Ihnen heute?"Alfred Biolek hat, ganz gewiefter Börsianer, einen Teil seines Aktienpakets abgestoßen, als die Kurse nach unten zu zeigen begannen. Als Koch "Alfredissimo" bleibt er den Zuschauern er- halten. Ganz zu schweigen von anderen Aktivitäten hinter den Kulissen. Ein alter Fuchs verschwindet eben nicht so schnell in seinem Bau.

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