Der musikalische Blick in eine angeschlagene Seele
Luxemburg · Gedichte von Friedrich Nietzsche, vertont von einem der profiliertesten lebenden Komponisten der Welt, interpretiert von einem der führenden Liedersänger, uraufgeführt im Rahmen einer Kooperation am Grand Théâtre: "O Mensch!", ein besonderer Leckerbissen der Theatersaison.
Luxemburg. Nietzsche? Das ist doch der Philsosoph mit dem Weib und der Peitsche. Der Erfinder des "Übermenschen". Das Genie, das in geistiger Umnachtung starb. Aber auch das ist Nietzsche: Ein poetischer Dichter, ein verzweifelt Liebender, ein von Vereinsamungsängsten Gepeinigter. So lernen wir ihn bei Pascal Dusapin kennen.
15 Jahre Vorbereitung
15 Jahre ist der renommierte Komponist mit der Idee schwanger gegangen, Nietzsche-Gedichte zu vertonen. Letztlich war die Bitte eines langjährigen Wegbegleiters, des Wiener Baritons Georg Nigl, entscheidend dafür, dass sich der Franzose an die Umsetzung machte. Ein mühsames Projekt: Für die Finanzierung des Kompositionsauftrags suchte man öffentlich 27 Spender zusammen, einen für jedes Stück. Sie zahlten jeweils 3000 Euro, zwei Drittel davon fraß die Steuer auf. Die französischen Feuilletons diskutierten über die Unmöglichkeit, als zeitgenössischer Klassik-Komponist zu existieren.
Dusapin strafte alle Lügen. Entstanden ist ein Zyklus aus 23 Liedern und vier Klavier-Zwischenspielen, den Dusapin als Regisseur und Nigl als Interpret gemeinsam mit der Pianistin Vanessa Wagner in Form eines szenischen Liederabends in Paris und Luxemburg zur Uraufführung gebracht haben.
Dem gebannt lauschenden Publikum wird ein dichtes, packendes Psychogramm einer Reise in den Abgrund geboten. Nicht nur der dunklen Grundfärbung wegen drängen sich Parallelen zur Schubert-Winterreise auf.
Dusapin hat aus unterschiedlichen Werken "seinen Nietzsche" herausgemeißelt. Es beginnt mit zarter Poesie, die man bei diesem Autor kaum vermutet hätte und die bei Dusapin mit unerwartet romantischen Klängen unterlegt wird. Zerbrechlich offenbart sich eine angeschlagene Seele, und der Komponist schenkt ihr wunderbar sinnliche Gesangslinien. Die Klavier-Partitur ist eher minimalistisch, die kurzen Kommentare zum dominierenden Gesangspart wirken fast wie improvisiert, aber Vanessa Wagner schafft es, auch ohne das Baden in Noten präzise Akzente zu setzen.
Darstellerischer Parforceritt
Und dann nimmt Georg Nigl das Publikum mit auf einen gestalterischen Parforce-Ritt, eine Eskalation des Zorns, des Überdrusses, der Verzweiflung. Sängerisch ohne jeden Makel, zeichnet er auf der meist düsteren Bühne eine atemberaubende Studie des Wahns. Er stolziert, tanzt, jagt, stolpert, schleicht durch die kahle Szenerie, verbindet seine beredte Körpersprache mit der beängstigenden Suggestionskraft seiner Mimik. Dusapins Lieder werden rauer, sprunghafter, weniger tonal. Nach 75 Minuten ein Gefühl des Bedauerns, weil alles schon vorbei ist. Das Publikum braucht einige Atemzüge, bevor es sich mit ausgiebigem Beifall für ein Werk bedankt, das alle Chancen haben sollte, das klassische Liederzyklus-Repertoire zu erweitern.