Literatur Autor Frank Jöricke über die Spotify-“Hölle“ und warum die 80er total überschätzt sind
Trier · Was bleibt, wenn in der Gegenwart manches fremd wird: Frank Jöricke über sein neues Buch „War’s das schon? 55 Versuche, das Leben und die Liebe zu verstehen“.
„Ich weiß nicht, wie konnte das geschehen – die Welt kann mich nicht mehr verstehen“, sangen Tocotronic in den frühen Neunzigern. Das beruht oft auf Gegenseitigkeit. Was ist los, Welt? Was passiert hier gerade? Frank Jöricke, Jahrgang 1967, kennt das Gefühl, er kennt die Fragen. Wie Millionen seiner Altersgenossen. Ach was, nicht nur die. Auch die etwas jüngeren, die beim Lesen von Wörtern wie Bandsalat, Wählscheibe, Raucherabteil und Modem nicht nur hilflos Fragezeichen durch die Synapsen schicken, bevor Google Licht ins Vorgestern bringt. „Die Unterschiede zwischen einem 35-Jährigen und einem 55-Jährigen sind wesentlich geringer als die zwischen 35 und 25“, sagt Jöricke – und rechnet vor. „Wer 1994 geboren wurde, ist mit Handys und Internet aufgewachsen, der war früh in den sozialen Netzwerken. Die Digitalisierung hat alles verändert. Wir erleben einen Umbruch wie zur Zeit der industriellen Revolution.“
Mittendrin, wie alle: Frank Jöricke – Essayist und im Hauptberuf Mitinhaber einer Werbeagentur in Föhren. Der Trierer erinnert sich noch gut an den Moment, als er merkte, dass das Jetzt und Hier und er nicht mehr so geschmeidig synchron laufen. Das war 2001, auf einer Party, ein Azubi hatte eingeladen. „Das war ein Schlüsselerlebnis“, erinnert er sich: „Da saßen fünf Jungs am Rechner, schoben den ganzen Abend MP3s in eine Playlist – und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl: Das ist doch keine Fete. Die Gegenwart ist seltsam geworden.“ Momente wie diese bringen Jöricke zum Schreiben. Die literarische Verarbeitung von Entwicklungen, die man verstehen, begreifen und akzeptieren will oder eben nicht.
Getrieben von der Frage: War’s das schon? Ist der Zug längst abgefahren? Und am Bahnhof ketten sich nur noch die Nostalgiker verzweifelt an den letzten Münzfernsprecher?
„War’s das schon? 55 Versuche, das Leben und die Liebe zu verstehen“, so heißt das vor wenigen Tagen erschienene Buch von Frank Jöricke, der mit „Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage“ 2010 einen erfolgreichen Roman veröffentlicht hatte. In Kombination mit dem Covermotiv – weißer Besen mit hellblauen Borsten kehrt Papierherzchen zusammen – könnte man den Titel als Ratgeber bei Liebeskummer fehlinterpretieren. Schnelle Hilfe bei gebrochenen Herzen kann und will die Sammlung allerdings nicht leisten. Was aber auch gar nicht nötig ist, da gibt’s sicher reichlich Auswahl. Die 55 ausgewählten Essays, Notizen und Artikel sind in den vergangenen 15 Jahren entstanden – einige erschienen im Volksfreund, andere im Playboy, wieder andere im sozialistischen „Neuen Deutschland“, das im Feuilleton liberaler sei, als man denken mag. Er will Denkanstöße liefern. Für sich und die Leser.
Seine thematische Bandbreite ist groß, sein Talent zu unterhalten auch. Da ist zum einen die Leidenschaft für Film und Fernsehen. Frank Jöricke schreibt über Serien wie „Mad Men“, Musicals wie „La La Land“ oder Filme wie „Green Book“: „Der spielt im Jahr 1962, sagt uns aber so viel über das Jahr 2019.“ Der Film läuft am Mittwoch übrigens im Open-Air-Kino im Kulturhafen Zurlauben (19.30 Uhr, freier Eintritt).
Jöricke schreibt auch über deutschen Rumpel-Fußball früherer Jahrzehnte oder darüber, wie sich etwa das Frauenbild bei James Bond geändert hat. „Noch in den 70ern war es völlig normal, dass Sean Connery oder später Roger Moore einer Frau eine scheuert. Da wäre heute der Aufschrei riesig.“ Jöricke setzt sich auch kritisch mit einer Dekade auseinander, die gerne mal extrem verklärt wird: die 80er, das „verlorene Jahrzehnt“, wie er schreibt. In dem der Spaß, die Lebensfreude, zwischen Aids-Angst, Waldsterben, Tschernobyl und Bono Vox auf der Strecke blieben. „Nein, früher war nun wirklich nicht alles besser“, sagt er. Aber manches eben schon. So merkt man dem Musikfan und DJ an, dass er nicht nur mit den aktuellen Charts nichts anfangen kann, sondern auch mit der Art und Weise, Musik zu hören. In „Tod einer Liebe“ schreibt er darüber, wie die Digitalisierung die Beziehung zur Musik zerstört habe – und warum er Streamingdienste wie Spotify für die „Hölle“ hält: „Alles ist im Überfluss vorhanden, aber nichts ist mehr greifbar.“
Jöricke hat mit Hilfe seiner Partnerin Katharina Hölz trotz der Themenvielfalt einen roten Faden für sein Buch gefunden. Wer das Buch nicht von vorne bis hinten oder sortiert nach „Leben“- oder „Liebe“-Themen will, kann sich selbst seinen Weg durch Jörickes Gedankenwelt suchen: Man kann das Buch in der Mitte aufschlagen und hat am Ende jedes Abschnitts zwei Möglichkeiten, fortzufahren. Wer die 80er-Abrechnung liest, wird dann zum „Verworrenen Jahrzehnt: Die 90er“ gelotst oder zum „Mann der 80er: Heiner Geißler“. So will Jöricke auch seinen Zuhörern bei seiner Premierenlesung am Donnerstag in der Stephanus-Buchhandlung (19.30 Uhr) überlassen, wie die Reise weitergeht. Eine weitere Lesung mit Livemusik von Steff Becker unter dem Label „Soul Man vs. Dr. Pop“ soll es im Dezember geben. Der bisherige Termin am 13. September musste verlegt werden.
Die Frage, ob’s das dann wirklich schon gewesen ist, beantwortet Jöricke übrigens entschieden mit „Nein“. Als Werber muss er sowieso auf dem neuesten Stand bleiben. Mit dem Alter verändere sich aber die Perspektive: „Wenn mein Opa vom Krieg oder den Nachkriegsjahren erzählt hat, war das eine komplett fremde Welt. Und so muss es sich inzwischen für 20-Jährige anfühlen, wenn ich von den 70ern oder 80ern erzähle – über eine Zeit ohne Computer und Handys, in der aber die Verbindlichkeit größer war.“ Jöricke hatte sich lange den sozialen Netzwerken verweigert, seit 2013 ist er aber bei Facebook aktiv. „Ich hatte mich lange gewehrt, ich habe mit der Selbstdarstelleritis nichts zu tun.“ Aber inzwischen sei Facebook ja eher ein Medium für die Ü40. So trifft man sich wieder.
Frank Jöricke, „War’s das schon? 55 Versuche, das Leben und die Liebe zu verstehen“, Solibro, 202 Seiten, 14.95 Euro