Kirchenmusik Der vergessene Streiter für die wahren Töne

Trier · „Lau-de dig-num ...“ – gregorianische Gesänge wirken oft wie Klänge aus dem Jenseits und schaffen eine meditative Stille. Dazu passt gar nicht, dass es um die Choralpraxis jahrhundertelang erbitterten Streit gab. Und fast gar nicht bekannt ist, dass Trier und ein hiesiger Lehrer darin eine entscheidende Rolle spielten.

 In der Stadtbibliothek Trier liegen die bedeutenden und kaum bekannten Forschungen des Trierer Musikwissenschaftlers Peter Bohn zur Gregorianik. Professor Dr. Michael Embach, Direktor der Stadtbibliothek, zeigt ein Stück aus dessen Nachlass.

In der Stadtbibliothek Trier liegen die bedeutenden und kaum bekannten Forschungen des Trierer Musikwissenschaftlers Peter Bohn zur Gregorianik. Professor Dr. Michael Embach, Direktor der Stadtbibliothek, zeigt ein Stück aus dessen Nachlass.

Foto: TV/Anne Heucher

Nach Peter Wagner ist in Trier eine Straße benannt. Der Musikwissenschaftler (1865–1931) aus dem heutigen Stadtteil Kürenz machte an der Universität im schweizerischen Fribourg Karriere, wurde Professor für Musikgeschichte und Kirchenmusik und erforschte den Gregorianischen Choral. Sein Lehrer Peter Bohn hingegen (1833–1925), der 40 Jahre lang am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium unterrichtete, ist heute nahezu vergessen. Dabei hat er als Privatgelehrter erheblichen Einfluss auf die Musikpraxis in der ganzen katholischen Kirche genommen. Mit seinen Forschungen hat es Bohn nämlich neben anderen Akteuren geschafft, den damaligen Papst Leo XIII. davon zu überzeugen, dass der Vatikan seine jahrhundertealten Auffassungen zur Kirchenmusik revidierte und die sogenannte „Editio vaticana“ erarbeiten ließ. Sie legte die wahre Gestalt eines gregorianischen Gesangs fest und ist seitdem  Grundlage der Choralpraxis.

„Bohn kennt heute niemand“, sagt Professor Michael Embach, Direktor der Trierer Stadtbibliothek, die den Nachlass des einstigen Gelehrten geerbt hat und nun beginnt, diesen systematisch aufzubereiten. Bohn habe 200 Handschriftenblätter, überwiegend aus dem 11. bis 14. Jahrhundert, zusammengebracht, dazu zwei Codices, „und niemand weiß wie“. Und damit habe er wesentliche Erkenntnisse über die Gregorianik gewonnen. Die Codices stammen aus dem Kloster Stuben nahe Edinger-Eller (heute Kreis Cochem-Zell), das sie aus Springiersbach in der Eifel hatte.

Den Choralstreit, der noch vor gut 100 Jahren nicht nur in Trier, sondern in ganz Europa tobte, werden viele Zeitgenossen heutzutage kaum noch nachvollziehen können. Er drehte sich darum, wie die einstimmigen lateinischen Choräle zu singen sind – und wie nicht. Schließlich glaubte man, dass der Gesang einer göttlichen Ordnung folge und deshalb nicht einfach durch Rhythmik, nicht-lateinische Texte oder andere Vereinfachungen verändert werden darf. Während der Vatikan 1614 mit einer „Editio Medicäa“ eine modernisierte Choralform für die Liturgie absegnete, kämpften so genannte Traditionalisten dagegen an, weil sie diese für  eine verwässerte, unauthentische Form des Gregorianischen Gesangs hielten. Um zu beweisen, wie der wahre Gesang eines Papstes Gregor (um 600) aussah, suchten die Traditionalisten, zu denen einige Trierer gehörten, in alten Handschriften nach Choralnotationen.

„Bohn hat aufgrund seiner Original-Sammlung versucht, die authentische Gestalt des gregorianischen Chorals zu rekonstruieren“, erklärt Embach. Dazu verglich er mittelalterliche Choralnotationen aus den alten Handschriften mit späteren Notationen. Zusammen mit dem Trierer Dommusikdirektor Michael Hermesdorf, der als einer der Köpfe der „Authentiker“ galt, gründete Bohn den Verein zur Erforschung alter Choralhandschriften. Die Beweise, die die Trierer Gelehrten in den Quellen dafür finden, dass der modernisierte Choral der „Editio Medicäa“ eine Verirrung gewesen ist, führten schließlich zum Erfolg:

Um die Wende zum 20. Jahrhundert änderte der Papst die jahrhundertealte Auffassung zur Choralpraxis und berief 1903 eine Kommission ein, die eine neue „Editio vaticana“ mit der Darlegung des unverfälschten alten Chorals erarbeiten sollte. Bohn wurde in die Vorbereitungen eingebunden. „Das muss man sich mal vorstellen: Da leistet ein Privatgelehrter eine Forschungsarbeit, die dann auf internationalem Tableau zu bestimmten grundsätzlichen Entscheidungen führt! Das ist seine Leistung“, zeigt sich Embach beeindruckt.

Mit dem Erlass der „Editio vaticana“ 1908, dessen Regeln das Bistum Trier drei Jahre später verbindlich einführte, hatte Bohn sein wichtigstes Ziel erreicht. „Es muss die Erfüllung seines Lebenstraums gewesen sein“, schätzt Embach. „Vom Vatikan wurde er hochgeehrt mit päpstlichem Orden.“

Heute ist Bohn fast vergessen. Der Gesang, den er zunächst als „Trierer Choral“ erforscht hatte, stellte sich im Laufe seiner Forschungen als historisch-authentischer Choral heraus. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen sind immer noch gültig. Eine kritische Edition des Gregorianischen Gesangs steht bis heute aus. Bohns Nachlass ist für die Stadtbibliothek ein Schatz, der neben mindestens zwei mittelalterlichen Codices, rund 200 Handschriften-Fragmenten und seiner Privatbibliothek auch seine Aufzeichnungen enthält – eine Art Tagebuch über den Choralstreit.

         Blick in ein Buch aus der Sammlung von Peter Bohn.

Blick in ein Buch aus der Sammlung von Peter Bohn.

Foto: TV/Anne Heucher
 Peter Bohn hat die alten Handschriften über den Choralgesang ausgewertet.

Peter Bohn hat die alten Handschriften über den Choralgesang ausgewertet.

Foto: TV/Anne Heucher
 Ein Fragment aus der Sammlung Bohn .

Ein Fragment aus der Sammlung Bohn .

Foto: TV/Anne Heucher

Wie andere alte Quellen aus der Stadtbibliothek soll auch die Sammlung Bohn konservatorisch aufbereitet und digitalisiert werden (siehe Artikel unten). „Es bahnt sich eine Kooperation mit der Universität im schweizerischen Fribourg an, die die Handschriftenfragmente der Sammlung Bohn in ihr Internet-Portal Fragmentarium einstellen will“, kündigt Embach an. Danach wird es noch einfacher sein, den europäischen Choralstreit um den wahren Gesang anhand  weiterer Quellen zu betrachten.

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