Die sanfte Macht der leisen Töne

LUXEMBURG. Eine grandiose Saisoneröffnung! Die Aufführung von Mahlers Achter in der Luxemburger Philharmonie zeichnete sich durch Klanggewalt aus, vor allem aber durch die Feinheiten und Differenzierungen im Detail.

 Das Konzerthaus auf dem Kirchberg (hier das Foyer mit Wandelgängen) bietet neben den musikalischen Genüssen auch architektonische. Foto: TV-Archiv

Das Konzerthaus auf dem Kirchberg (hier das Foyer mit Wandelgängen) bietet neben den musikalischen Genüssen auch architektonische. Foto: TV-Archiv

Da ziehen sie ein auf der großen Chortribüne der Luxemburger Philharmonie - die Damen und Herren in festlich-normalem Schwarz, die Knaben in Schwarz und Dunkelrot. Minutenlang. Schließlich stehen 210 Sängerinnen und Sänger in den Reihen, über denen nur noch der Spieltisch zur großen Orgel thront, bereit zur Aufführung von Gustav Mahlers achter Sinfonie. Michael Tilson Thomas schlägt am eigens erhöhten Dirigentenpult den Einsatz zum Pfingsthymnus "Veni Creator spiritus". Und wer hört, der staunt. Eine diffuse, wabernde Klangmasse? Lautstärke ohne Kontur? Nein, dieser Klangkörper aus dem Chor der Bamberger Symphoniker (Rolf Beck), dem Prager Philharmonischen Chor (Jaroslav Brych) und der Basler Knabenkantorei (Beat Raaflaub) lieferten Stimmstärke, Kultur, Homogenität und fast ungetrübte Intonationsreinheit in einer Größenordnung, die Mahlers sinfonischen Zyklop in neues Licht stellt. Nichts blieb dumpf, unklar, verschwommen. Die Genauigkeit, die Differenzierungskraft der Interpretation und, mehr noch, die Fähigkeit, die leisen, subtilen Momente des Werks plastisch wiederzugeben - daraus resultierte die Ausdrucksgewalt des einzigartigen Werks. Die Engelschöre im zweiten Teil klingen nicht nur engelrein, sondern auch leichtfüßig, beschwingt, so, als fiele die große Zahl der Sängerinnen gar nicht ins Gewicht. Und der Männerchor beschwört zum Beginn dieses Teils die naturnahe Szenerie des Goethe-Textes mit einer wunderbar leisen, feinen und doch substanzreichen Tongebung. Auch das von Erin Walls starkem, flexiblen Sopran angeführte Solisten-Oktett, gibt bei aller stimmstarken Dramatik genügend Feinheiten und Differenzierungen mit - allen voran Michelle de Youngs gradlinig-kultivierter Alt und der markante, vorzüglich artikulierende Bassbariton von James Johnson (weitere Solisten: Elza van den Heever, Laura Claycomb, Elena Manistina, Anthony Dean Griffey, Raymond Aceto).Transparenz und Deutlichkeit

Michael Tilson Thomas tritt im Zweireiher und mit offenem Hemd ans Pult - leger im Outfit, aber penibel in der Sache. Der amerikanische Dirigent ist nicht nur Koordinator, sondern umsichtiger Gestalter. Wenn er im ersten Satz über weite Zeiträume hinweg auf den Beginn der Reprise und dann den der Coda zielt. Wenn er den Schluss, in dem sich das Bekenntnis im ersten und die Reflexionen im zweiten Abschnitt visionär verbünden, immer wieder durch Zäsuren gliedert. Wenn er beschleunigt, verzögert, antreibt und verhält. Wenn er schließlich der großen Instrumental-Einleitung zum zweiten Teil eine verhaltene Intensität sondergleichen mitgibt. Und da entfaltet die San Francisco Symphony, sonst in dieser Chor-Sinfonie in der undankbaren Begleiterrolle - da entfaltet dieses vorzügliche Orchester seinen eigenen Charakter. Sein heller, analytischer Grundklang, seine ausgeprägte Beweglichkeit verleihen Mahlers Orchesterpolyphonie Transparenz und Deutlichkeit. Der Gesamteindruck war grandios, ohne Zweifel. Aber begann in der Philharmonie wirklich das "Universum zu klingen und zu tönen", wie es Mahler vorschwebte? Seit die Raumschiffe aus Hollywoods Filmindustrie über die Fernsehbildschirme kreuzen, haben kosmische Visionen ihre Aura verloren. Mahlers Achte entfaltet jetzt andere, menschlichere Dimensionen - nicht in den machtvoll lauten Abschnitten, die heute von jedem Rockkonzert überboten werden, sondern in den feinen, subtilen Zwischentönen, den Nuancen, den akustischen Tableaus, in denen sich verstreute Klänge wie durch Zauberhand zu einem ausdrucksreichen Mosaik formieren. Bei aller Klanggewalt - es war die sanfte Macht der leisen Töne, die diesem Konzert Ausnahmerang verlieh. Das Publikum jedenfalls jubelt, als gelte es, einen Olympiasieg zu feiern.

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