Die Sternstunde nach all den Hundejahren

Prüm · Rauschender Empfang, beseelter Vortrag: Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat am Donnerstag in der Prümer Realschulhalle vor ausverkauftem Haus gelesen, aus seinem jüngsten Buch "Grimms Wörter". Für Josef Zierden, Chef des Eifel-Literatur-Festivals, und für die 700 Zuhörer wurde ein Märchen wahr.

 Die Geduld des Günter Grass: Noch lange nach der Lesung signiert der Autor seine Bücher. TV-Foto: Klaus Kimmling

Die Geduld des Günter Grass: Noch lange nach der Lesung signiert der Autor seine Bücher. TV-Foto: Klaus Kimmling

Da kann man nicht unken: Die Eifel bereitete Günter Grass am Donnerstag in Prüm einen so herzlichen Empfang, dass der Nobelpreisträger gleich zu Beginn ein Bonmot brachte: "So viel Ehrung, so viel Zuspruch - man könnte, um ein neues Wort zu formen, eifelsüchtig werden." Riesenapplaus.
Grimms Wörter, sein jüngstes Buch über Jacob und Wilhelm Grimm, über ihre Arbeit am "Deutschen Wörterbuch", 1838 begonnen, erst 1961 abgeschlossen und an der Universität Trier digitalisiert: Aus diesem Band, der zugleich die politische Autobiografie des Günter Grass enthält, wird er an diesem Abend lesen.
Was selbstverständlich zu märchenhaften Assoziationsgirlanden führt: Dass Grass nun doch in die Region kam, ins kleine Prüm, "fast schon umgeben von Grimmschen Märchenwäldern" - für Josef Zierden, Chef des Eifel-Literatur-Festivals, ist das nicht weniger als ein zauberhaftes Happy End, nach einem 14 Jahre währenden, "wie verhext ergebnislos scheinenden Warten".
Kleine Stadt, großer Autor

 Günter Grass. TV-Foto: Klaus Kimmling

Günter Grass. TV-Foto: Klaus Kimmling


Aber das Wünschen hilft eben manchmal doch. Und wer Zierden kennt, der weiß um dessen Hartnäckigkeit - die nämlich, sagt Grass im Gespräch mit dem TV, habe letztlich zum Erfolg geführt. "Die Menschen sind ausdauernd hier", sagt der rheinland-pfälzische Kultur-Staatssekretär Walter Schumacher und dankt Zierden dafür, dass dieser "schon nach 14 Jahren" den Nobelpreisträger in die Stadt geholt habe. "Wir freuen uns auf den Abend. Und auf Sie, den großen Schriftsteller unserer Zeit."
Der große, noch zwei Wochen lang 83-jährige Schriftsteller, trägt sich jedoch zuvor noch ins Goldene Buch der Stadt Prüm ein, "damit die uns nachfolgenden Generationen das auch glauben", sagt Zierden. Und Stadtbürgermeisterin Mathilde Weinandy schenkt Grass einen Korb mit Spezialitäten aus dem Prümer Land: "Ich denke, da werden Sie auf den Geschmack für die Eifel kommen." "Gute Idee", sagt Grass. Und schon wähnt man Josef Zierden bei der Planung für einen Wiederholungsbesuch.
Grass beginnt. Drei Passagen liest er vor, beginnend mit dem "A": Nicht mit, Zitat aus dem ersten Kapitel, "Ach und Krach", sondern aufrecht, animiert, angeregt, immer wieder in die Runde der aufmerksam lauschenden 700 aufblickend. Man spürt seine Liebe zur "wunderbaren deutschen Sprache. Sie ist über all die Jahrzehnte mein Rückhalt geblieben", sagt er.
Und sie trägt ihn durch den Vortrag, in dem er den Text ungemein lebendig werden lässt - "Grimms Wörter" scheint mehr zum Zuhören als zum Lesen geschrieben: "Verben überfallen ihn, Adjektive, Substantive, in Unzahl die Partikeln ... in Fülle Beispiele und Zitate, die ihm, gleich Spatzen zufliegen, als habe er Futter gestreut".
Gegen Ende eine kämpferische Passage, da bleibt Günter Grass sich treu, denn er erlebe "gegenwärtig, wie Korruption zunimmt, während Grundrechte schwinden, indem Freiheit zur Worthülse wird, sobald Reiche unverschämt reicher, Arme klaglos ärmer werden, so dass ich gegen Ende meiner Zeitweil mit Jacob Grimm erkenne: Je näher wir dem Rande des Grabes treten, desto ferner weichen von uns sollten Scheu und Bedenken, die wir früher hatten, die erkannte Wahrheit, da wo es an uns kommt, auch kühn zu bekennen." Das wird der Bürger Grass auch weiterhin tun.
Am Ziel angelangt: Großer Applaus, das Publikum steht - um kurz darauf die größte Schlange zu bilden, die die Eifel jemals nach einer Autorenlesung gesehen hat. Grass bleibt sitzen. Und signiert, ganz wie Josef Zierden versprochen hatte, "bis zum Abwinken".

Günter Grass, geboren am 16. Oktober 1927 in Danzig, war der letzte Literatur-Nobelpreisträger des vergangenen Jahrhunderts: Der Autor, so schrieb die Jury in der Begründung für die Preisvergabe 1999, habe "der deutschen Literatur nach Jahrzehnten sprachlicher und moralischer Zerstörung" einen Neuanfang ermöglicht. Nach Herta Müller ist er der zweite Nobelpreisträger, der in der Eifel las. fpl

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