Dieser Gesang geht unter die Haut

Luxemburg · Vor zwei Jahren hat die südkoreanische Sängerin Youn Sun Nah ihr Publikum in der Trierer Tuchfabrik restlos bezaubert. Nun ist die vielfach ausgezeichnete Interpretin von 1300 Zuhörern in der Philharmonie Luxemburg gefeiert worden. Das Konzert mit ihrem meisterlichen Quartett ging tief unter die Haut.

 Sie lebt die Essenz ihrer Lieder mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Stimme: Youn Sun Nah beim Auftritt in der Philharmonie. Foto: Sébastien Grébille

Sie lebt die Essenz ihrer Lieder mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Stimme: Youn Sun Nah beim Auftritt in der Philharmonie. Foto: Sébastien Grébille

Luxemburg. Es ist nichts weniger als eine Offenbarung, die das Publikum in der ausverkauften Philharmonie Luxemburg an diesem Abend erlebt. Sie geht aus von einer mädchenhaft-charmanten Frau, die mit rührender Verlegenheit ins Rampenlicht tritt und sich kaum traut, laut zu sprechen. Aber als sich ihre Stimme über sanft gezupfte Gitarrentöne zur melancholischen Melodie des Titels "Hurt" von den Nine Inch Nails aufschwingt, legt sich augenblicklich ein kraftvoller Zauberbann über den ganzen Saal.
Youn Sun Nah singt nicht einfach, sie lebt die Essenz des Stücks. Mit jedem Hauch, jedem warmen Ton, jeder sanften, zuweilen ins brüchige changierenden Timbrierung macht sie den Schmerz, von dem es handelt, spürbar. Dieser Gesang geht buchstäblich unter die Haut, sprengt den Deckel von Rationalität und Kontrolle, legt das Innerste frei. So auch in allen weiteren Titeln, die sie mit ihrem langjährigen Gitarrenpartner Ulf Wakenius, dem äußerst einfühlsamen Akkordeonisten Vincent Peirani und dem Bassisten Simon Tailleu interpretiert.
Mit Mut und Seele


Es sind Kompositionen von Wakenius und Peirani, schwedische, englische und koreanische Folk-Songs, Rock- oder Jazzballaden. Wenn auch die Chanson-Affinität der in Paris ausgebildeten Sängerin und ihrer französischen Mitmusiker deutlich zu erkennen ist, sind Stil oder Genre insgesamt nebensächlich. Es zählt die Seele des jeweiligen Stücks. Band und Sängerin schälen immer die wesentliche, universelle Aussage heraus. Das gelingt mit Ruhe und Zeit für Entwicklung sowie dem Mut zu Minimalismus, aber auch Opulenz.
Den oft in Bigband-Arrangements vertonten Jazz-Standard "My Favorite Things" beispielsweise singt Youn Sun Nah nur zu wenigen Tönen einer Karimba. "Mistral" von Ulf Wakenius kommt dagegen als ein richtiger "Klangfilm" daher. Das Stück zieht den Zuhörer in seine Entstehungsgeschichte an einem Abend in Südfrankreich mit zu viel Weingenuss hinein. Es ist auch exemplarisch für die ungeheure Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten, die Youn Sun Nah zu einer Ausnahmevokalistin machen. Erst lässt sie nur ihren Atem rhythmisch, pustend und rauschend klingen. Dann formt sie beim Einziehen von Luft seufzerähnliche Töne in verschiedenen Stimmlagen, unterbrochen von Glucksen wie bei einem Schluckauf. Während sich dazu Flamenco-Gitarre, atmosphärische Töne des Akkordeons und ein wilder Bass zu einem rauschhaften Taumel steigern, verfällt Youn Sun Nah in eine reine Koloratur-Sopran-Arie. Als der Taumel wieder abklingt, wird daraus tiefes brüchiges Krächzen, Pusten, sirenenartiges Sirren und schließlich melodisches Trällern. Ähnlich viel Witz und kreative Improvisation äußern sich auch in "Pancake" oder dem groovigen Westernsong "Ghost Riders", in dem die Sängerin, die mühelos drei Oktaven überspringen kann, einen tiefen rotzigen Gesang anstimmt.
Am ergreifendsten sind jedoch die von einer zarten, leisen Sinnlichkeit geprägten Stücke wie "Lament" oder "Empty Dream", bei denen man im Saal eine Stecknadel fallen hören könnte. Zum Schluss sind nicht nur die Zuhörer überwältigt, auch Youn Sun Nah ist es - von den anhaltenden Ovationen.

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