Ein Dichter in Russland ist mehr als ein Dichter

Trier · In seiner Heimat Russland ist der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko eine lebende Legende, auch weltweit hat er sich durch sein in mehr als 70 Sprachen übersetztes Werk und sein Engagement für Völkerverständigung einen Namen gemacht. Jetzt hat eine Lesung des 83-Jährigen im Museum am Dom für großen Zulauf gesorgt.

 Bunte Kleidung, wacher Blick: Der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko, eine große poetische und politische Stimme aus Russland, hat sich in Trier vorgestellt. TV-Foto: Anke Emmerling

Bunte Kleidung, wacher Blick: Der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko, eine große poetische und politische Stimme aus Russland, hat sich in Trier vorgestellt. TV-Foto: Anke Emmerling

Foto: Anke Emmerling (ae) ("TV-Upload Emmerling"

Trier. Mit einem solchen Ansturm haben die Veranstalter der Lesung von Jewgeni Jewtuschenko - das Centre Culturel et Scientifique de Russie au Luxembourg, der Fachbereich Slawistik der Universität Trier, das Bistum und das Museum am Dom Trier - nicht gerechnet. Laufend müssen Stühle herbeigeholt werden für die rund 300 Interessierten.
Alles auf Russisch


Es sind durchweg russischsprachige Zuhörer, etwa Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Trier, in der Region lebende Ukrainer oder Angehörige des Fachbereichs Slawistik an der Uni Trier. Ihnen zuliebe wird die Lesung komplett auf Russisch abgehalten, bis auf ein Grußwort an den Dichter. Der erscheint in kunterbunter Kleidung, einem Paisley-Jackett, blauem gemusterten Hemd und gelber Krawatte. Seine Farbenfreude hat er einmal damit erklärt, dass ihm die Soldatenuniformen und Häftlingskleider aus seiner Kindheit und Jugend gereicht hätten.
Jewtuschenko wurde als Sohn eines deutschstämmigen Vaters 1931 in Sibirien geboren, bekam aber aus Furcht vor Repressalien den russischen Familiennamen der Mutter. Auch sein Geburtsdatum wurde geändert, um einen Umzug nach Moskau zu ermöglichen. Seine Laufbahn dort begann zunächst mit Schulverweis und Arbeit in Kolchose und Sägewerk, bis er 1949 sein erstes Gedicht veröffentlichte.
Widerstand und Anpassung


1952 wurde er zum Studium am Gorki-Literatur-Institut und zum sowjetischen Schriftstellerverband zugelassen. Auftakt für ein Dichterleben zwischen Anpassung und Widerstand, das sich in widersprüchlichen Werken niederschlug. Neben einem Trauergedicht zu Stalins Tod oder Hymnen auf den sozialistischen Aufbau finden sich die Verurteilung der sowjetischen Niederschlagung des Prager Frühlings, das Antikriegsgedicht "Meinst Du, die Russen wollen Krieg?" oder "Babi Jar", mit dem er 1961 weltweit bekannt wurde. Darin thematisierte er den deutschen Massenmord an Kiewer Juden 1941.
Weltkriegserfahrungen stehen auch am Anfang seines zunächst freien Vortrags. Assoziativ vermischt er eigene Erfahrungen mit Aussagen berühmter Dichter und sinniert: Barmherzigkeit sei wichtiger als Gerechtigkeit. Das erschließt sich für jemanden ohne Russischkenntnisse jedoch nur mit Hilfe einer netten Sitznachbarin wie Evgenia Grishina. Die junge Frau aus Russland ist seit Oktober in Trier und arbeitet in der Universitätsbibliothek. Sie hat ihren sechsjährigen Sohn mitgebracht, um ihm den großen russischen Gegenwartsdichter vorzustellen. Ihr Kind gewinne sicher einen Eindruck vom Ton, wie man Lyrik vortrage, inhaltlich sei das Ganze aber zu schwer, sagt sie.
Unter den Gedichten, die Jewtuschenko vorträgt, ist ein Achtzeiler über die Schrecken des Kriegs, über das Heinrich Böll vor Rührung geweint haben soll. Allein durch die leidenschaftliche Betonung, die Sprachmelodie und -rhythmik erschließt sich wuchtige Eindringlichkeit.
Wenn das Mikrofon schwächelt, melden sich sofort Stimmen, niemand will auch nur ein Wort verpassen. Das untermauert den Eindruck vom Kultstatus, den dieser Mann nicht zuletzt auch wegen seines politischen Engagements genießt. 1972 hat er den diplomatischen Boden für den Besuch Richard Nixons in der UDSSR bereitet, später hat er Gorbatschow bei der Perestroika unterstützt und die deutsche Wiedervereinigung befürwortet. Vor allem aber bestätigt es Jewtuschenkos Beobachtung bei einer Tournee durch Russland, dass es dort noch möglich sei, die Menschen über Poesie zusammenzuführen.
Zudem berichtet der Dichter, dass er sich das Geburtshaus von Karl Marx angesehen habe. Er halte ihn für eine große Persönlichkeit der Weltgeschichte, die mit Respekt zu behandeln sei, auch wenn die Meinungen zu seinem Gedankengut kontrovers seien.

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