Ein Glück, dass man so lange leben kann...

MÜNCHEN. Er ist der weltweit dienstälteste und noch aktive Schauspieler: Johannes Heesters wird am 5. Dezember ein Jahrhundert alt. Kein Grund für den holländischen Künstler, ans Aufhören zu denken.

Es sollte ein ganz großer Erfolg werden, doch es wurde der größte Flop seiner Karriere. Und er kam umso überraschender, als Johannes Heesters, Hitlers bevorzugter Graf Danilo aus der "Lustigen Witwe", sich längst mit seiner Heimat versöhnt zu haben schien. 1964 wollte er, nach einigen umjubelten Nachkriegsauftritten in den Niederlanden, den vor den Nazis geflohenen österreichischen Baron von Trapp in dem Musical "The Sound of Music" in Am-sterdam spielen.Da muckten auf einmal die Medien auf. Könne er, der seinen kometenhaften Aufstieg zum umschwärmten Schauspielsänger den braunen Verbrechern aus dem östlichen Nachbarland verdankte, überzeugend einen Nazi-Gegner spielen? Habe er überhaupt das Recht dazu?Die Frage wurde im flachen Land zum Flächenbrand, den die einflussreichen Zeitungen und Rundfunkanstalten wenige Tage vor der Premiere anfachten. Die Show war nicht mehr zu retten. Nach der ersten Aufführung buhten ihn die Zuschauer aus und skandierten "Heester-SS! Heester-SS." Zutiefst betroffen, reiste der Künstler zurück nach Deutschland, wo er sich der Liebe seines Publikums nach wie vor sicher sein konnte. In Holland ist er nie mehr aufgetreten.Dabei hatte hier alles so vielversprechend begonnen, als der 17- jährige Johan Marius Nicolaas Heesters 1921 zum berühmtesten Ensemble des Landes in Amsterdam, "Het Nederlandse Toneel", stieß und quasi im Handstreich die Herzen des Publikums eroberte.Was für ein Mann! Schon um den 14-Jährigen riss sich die Weiblichkeit. In dem Alter verlor er seine Unschuld, übrigens an dasselbe Mädchen wie seine drei Brüder. Während die sich jedoch dieser und weiteren Eroberungen zu brüsten pflegten, verlor "Jopi" kein Wort über sein "erstes Mal" und die zahlreichen anderen Male. Damit sollte er Zeit seines Lebens gut fahren: Wie viele Verhältnisse er hatte, wie viele Seitensprünge er während seiner 53-jährigen Ehe mit der belgischen Sopranistin Louise ("Wiesje") Ghijs tätigte: Nie ist etwas an die Öffentlichkeit gedrungen. Und die Gattin reagierte stets souverän; sie wusste schließlich, wen sie geheiratet hatte: ""Tu, was du willst", habe sie gesagt, wie Heesters sich in einem Interview erinnerte. "Aber lass es mich nicht wissen. Mach die Familie nicht lächerlich."Nicht im Traum wäre ihm das eingefallen. Johannes Heesters ist Zeit seines Lebens ein Gentleman geblieben. Einer, der nicht nur unverschämt gut aussah, sondern auch noch über beachtliches Talent verfügte. Der mit seiner noblen Attitüde, sympathischer Selbstironie, bescheidener Freundlichkeit und nicht zuletzt mit seinem weichen Tenor, dessen holländischer Akzent unverkennbar war, bei den Frauen dafür sorgte, dass der Puls nicht achtzig, sondern hundert schlägt.Er war das Glückskind aus Amersfoort, wo er 1903 geboren wurde und wo heute - siehe oben - kein Platz und keine Gedenktafel an den berühmtesten Sohn des Ortes und gewiss einer der berühmtesten der Niederlande an ihn erinnern.Seine künstlerische Heimat wurde Deutschland. Für einen wie ihn war das Königreich am Wasser ohnehin bald zu klein; sein Ruhm übersprang schnell die Grenzen, zunächst nach Belgien, dann nach Österreich und Deutschland, wo unheilvolle Zeiten angebrochen waren. Heesters trat die Reise, die eine ohne Wiederkehr sein sollte, trotzdem an. Auch in Wien und Berlin ging es wie zuvor zu Hause steil nach oben mit der Karriere. Beim kulturellen Kahlschlag kam Heesters "für die Nazis genau zur rechten Zeit", wie sein Biograf Jürgen Trimborn schreibt. "Seine Ausgangsposition war glänzend. Schon weil es sonst kaum würdige Nachfolger für die vertriebenen Tenöre gab, die man zu Stars hätte aufbauen können, standen seine Chancen, eine große Karriere zu machen, äußerst gut. Das Propaganda-Ministerium entschied sich, ihn zum neuen Operettenstar Deutschlands zu machen."Meistbeschäftigter Tenor im Film und auf der Bühne

Was ihm für eine Hypothek aufgebürdet wurde, erkannte der damals 32-Jährigen natürlich erst später. Selbstverständlich hatte er es nicht den Nazis zu verdanken, dass er an der Spitze der "entjudeten" Unterhaltungskultur der kulturlosen Jahre bejubelt wurde, sondern in erster Linie seinem Talent und seinem Naturell, das so ganz und gar nicht dem deutschen Mannesideal entsprach: Nicht kantig, eisenhart und autoritär, sondern liebenswürdig, humorvoll, charmant. Während die Deutschen Befehle bellten, sang der Holländer mit dem Knie erweichenden Schmelz in der Kehle. Er war einer der meist beschäftigten Künstler in den Babelsberger Studios und auf den Bühnen Berlins und Münchens. Stand Heesters‘ Name auf den Plakaten, konnte der Theaterdirektor sicher sein, dass auch die hundertste Vorstellung der "Lustigen Witwe", des "Bettelstudenten", der "Fledermaus" ausverkauft waren.Die Tatsache, dass die braunen Barbaren ihn förderten, hat ihm dort, wo sie wüteten, am allerwenigsten geschadet. Freilich muss man Heesters zugute halten, dass er -im Gegensatz zu seinen anderen ausländischen Kolleginnen wie die schwedische Bassdrossel Zarah Leander oder die ungarische GulaschPuppe Marika Rökk, die nach 1945 ebenfalls in ihren Heimatländern bis ins hohe Alter geächtet wurden-, als einziger öffentlich Worte des Bedauerns geäußert hatte: "Ich schämte mich, und ich habe bis heute nicht aufgehört, mich zu schämen...Ich ärgere mich über meine Vertrauensseligkeit, meine Gutgläubigkeit und meine Naivität." Dies seien, so Biograf Trimborn anerkennend, "deutlichere Worte, als viele Schauspieler, die sich im dritten Reich haben...instrumentalisieren lassen, sie gefunden haben".Am 5. Dezember wird der Mann, den die Deutschen lieb(t)en wie keinen anderen importierten Künstler, ein Jahrhundert alt. Heute um 20.15 Uhr gehen im Ersten die Feierlichkeiten los; zahlreiche Sender und Sendungen folgen. Anlass für ein solches Spektakel gibt‘s schließlich nicht jedes Jahrhundert. Ruhiger und gelassener kommt dagegen Trimborns Biografie daher, ein durch seine Detailliertheit bestechend objektiver Lebensbericht. Ein Jahrhundert Heesters wird hier nicht zuletzt auch zu einem halben Jahrhundert deutscher Kultur. Jürgen Trimborn: "Der Herr im Frack. Johannes Heesters", mit einem Vorwort von Hellmuth Karasek, Aufbau-Verlag Berlin, 528 Seiten, zahlr. Abb., 24,90 €.

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