Ein Jahrhundert Musik auf einer Bühne

Sechs Jahrzehnte jüngere deutsche Geschichte im Spiegel deutschsprachiger Musik, als Tanztheater inszeniert und mit Live-Band begleitet: Das Trierer Theater geht wieder einmal neue Wege. Für "Deutschland tanzt", das am 24. Oktober Premiere feiert, zeichnet ein ungewöhnliches Duo verantwortlich.

Trier. Sie könnten, jedenfalls altersmäßig, Vater und Sohn sein: Michael Kiessling, Rockmusiker, Jahrgang 1956, in Trier groß geworden. Und Lars Scheibner, Tänzer und Choreograph, Jahrgang 1976, aufgewachsen in der DDR. Kiessling ist ein hagerer, meist dunkel gewandeter, ruhige Bewegungen bevorzugender Mann mit dem hervorstechenden Merkmal einer, wie der "Rolling Stone" schrieb, "Sandpapierstimme, die in Keller und Frequenzen torkelt, bei denen einem schlicht die Lichter ausgehen". Scheibner, im legeren Jack-Wolfskin-Look, ist ein agiles Energie-Bündel, der bei den Proben alle Bewegungsabläufe vortanzt und seine Ideen beim anschließenden Gespräch mit ansteckender Begeisterung heraussprudelt.

Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten: die Lust, Dinge zu interpretieren. Der derzeitige Lebensmittelpunkt Berlin. Und die Bekanntschaft zu Triers Ballett-Chef Sven Grützmacher, der immer auf der Suche ist nach neuen Ideen. Letzterer war bei der Planung für die "Deutschland-Spielzeit" des Theaters auf den französischen Film "Le Bal" von Ettore Scola gestoßen - ein faszinierender, wortloser Streifen aus den frühen Achtzigern, der Zeitgeschichte in Form von Musik und Tanz in einem riesigen Ballsaal erzählt.

Schnell hatte man sich im Theater auf das Projekt eingeschossen: einen "Deutschen Tanzpalast", mit Musik aus jedem Jahrzehnt der Republik, auf der Suche nach der Stimmung, die die jeweilige Epoche prägte. Nach dem Erfolg von "Piaf" lag es nahe, wieder mit Live-Musik zu arbeiten, und so kam Michael Kiessling ins Boot, der im Theater Trier erfolgreich den Soundtrack für die "Woyzeck"-Inszenierung geliefert hatte. Im Frühjahr stieß Lars Scheibner dazu, und seither hat man mehr als 200 Titel gecheckt, um schließlich 27 als Ballett-Musik auszusuchen - 18 davon wird Kiessling mit seiner Band live singen.

Das Spektrum umfasst alles, was die Gemüter der Deutschen bewegte, von Zarah Leander bis Grönemeyer, von Udo Jürgens bis Ton Steine Scherben, von Heintje bis Rammstein. Mit "zwei kleinen Italienern" geht es in Urlaubsgefilde, mit David Bowies "Helden" in den Berliner Underground. Alles nah am jeweiligen Zeitgeist, aber "auf keinen Fall eine historische Revue", wie Scheibner und Kiessling betonen, eher ein "sehr subjektiver Abriss". Ein "sinnlicher Abend" soll es werden, sagt Lars Scheibner, "bei dem ein Gefühl übrig bleibt". Und nicht unbedingt eine politische Erkenntnis. Beantwortet werden soll die Frage, "was von der Geschichte übrig bleibt, wenn alle Worte weggelassen werden". Wer könnte das besser beantworten als Tanztheater?

Freilich: Etwas skurril ist die Sache schon. Da sollen junge Tänzer aus aller Herren Länder deutsche Emotionen zu deutschsprachiger Musik vertanzen, die längst vor ihnen auf der Welt war. Aber es sei erstaunlich, erzählt Scheibner, wie sich die musikalische Kraft vieler Titel "völlig unabhängig vom Kulturkreis" verbreite.

Für Michael Kiessling ist die Möglichkeit, "seine" deutschsprachige Musik in seiner Heimatstadt in einer Tanztheater-Produktion singen und selbst auf der Bühne mitspielen zu können - Scheibner hat ihn als Zeitreisenden mitinszeniert - schlicht "die Erfüllung eines Traums". Und natürlich hofft er darauf, dass das Trierer Publikum ihn mitträumt.

"Deutschland tanzt", Uraufführung am 24. Oktober, weitere Termine: 25. Oktober, 7., 8., 11., 17. November, 20. Dezember, 3., 8., 15., 17., 31. Januar.

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