Ein Meister der Erinnerung

Stockholm/Paris · In seinen etwa 30 Büchern widmet er sich vor allem einem Thema: der Erinnerung. Für seine besondere Erzählkunst wird der Franzose Patrick Modiano mit dem diesjährigen Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Stockholm/Paris. In der Nähe des Pariser Jardin du Luxembourg war Patrick Modiano gerade unterwegs, als er vom Literaturnobelpreis erfuhr. Es passt zu dem 69-Jährigen, dass er die Nachricht auf der Straße bekam, denn die Straßen spielen eine wichtige Rolle in seinen Büchern. Verfolgen seine Figuren doch auf ihnen das zentrale Thema des französischen Schriftstellers: die Erinnerung.
"Für die Kunst der Erinnerung, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen hat", bekam er nun von der Königlich-Schwedischen Akademie die höchste Auszeichnung der Literaturwelt.
Schwerpunkt Nachkriegszeit


Als Sohn eines italienisch-jüdischen Kaufmanns und einer flämischen Schauspielerin wurde Modiano wenige Wochen nach Kriegsende 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren. Die Besatzungszeit, die seine Eltern miterlebten, ist Gegenstand vieler seiner rund 30 Bücher - auch dafür zeichnete ihn die Schwedische Akademie nun aus. Schon sein Erstlingswerk "La Place de l\'Etoile" befasst sich 1968 mit dem Thema. Später folgt "Dora Bruder" über das Schicksal einer Jüdin im besetzten Paris. "Er nimmt die Leser mit in die tiefste Wirrnis der dunklen Zeit der Besatzung", schreibt Präsident François Hollande in seiner Würdigung.
Nach einer chaotischen Kindheit, in der die Eltern sich nach dem frühen Tod des Bruders trennen, kommt Modiano schon früh zur Schriftstellerei. "Ich habe früh angefangen, mit 20. Das war etwas Natürliches", schildert er am Donnerstag im Gespräch mit dem Nobelpreiskomitee den Beginn seiner Schriftstellerkarriere.
Für Peter Englund, den ständigen Sekretär der Königlich-Schwedischen Akademie, sind die Bücher von Modiano etwas Besonderes. "Es geht immer um dieselben Themen: Erinnerung, Verlust, Authentizität, Suche." Das gilt auch für "Der Horizont" - die Geschichte eines deutsch-französischen Liebespaares, auf deren Spur sich die Hauptperson 40 Jahre später gibt. Oder für den melancholischen Roman "Im Café der verlorenen Jugend", wo eine junge Frau versucht, ihrer Vergangenheit als Tochter einer Platzanweiserin im Moulin Rouge zu entfliehen. "Es ist sehr schön, das Intime auszuzeichnen", würdigt der französische Schauspieler und Asterix-Darsteller Edouard Baer den Preisträger.
"Nicht schwer zu lesen"


Nur rund 150 Seiten haben die Bücher des scheuen 69-Jährigen, der nach der Bekanntgabe der Entscheidung am Telefon erst einmal um Worte ringen musste. "Er ist nicht schwer zu lesen", sagt Englund. Dadurch könnte dem neuen Nobelpreisträger ein breiter Erfolg garantiert sein, der anderen Autoren wie seinem französischen Vorgänger J.M.G Le Clézio versagt blieb. Während Modiano in Frankreich ein bekannter Autor ist, der bereits den renommierten Literaturpreis Prix Goncourt erhielt, kennt ihn im Ausland noch kaum einer. Die Ausnahme ist Deutschland, wo Peter Handke ihn bereits 1985 entdeckte.
Welches sein Lieblingsbuch ist, wird Modiano nach der Bekanntgabe der Auszeichnung am Telefon gefragt. "Ich habe den Eindruck, in gewisser Weise immer dasselbe Buch zu schreiben. Dasselbe Buch in Etappen seit 45 Jahren." Sein neuer Roman "Gräser der Nacht" soll demnächst auf Deutsch erscheinen. Und er handelt wie alle anderen - vom Suchen und Vergessen.Extra

Die Literaturnobelpreisträger der vergangenen 15 Jahre im Überblick: 2013: Alice Munro (Kanada), "Tanz der seligen Geister"; 2012: Mo Yan (China), "Das rote Kornfeld"; 2011: Tomas Tranströmer (Schweden), "Das große Rätsel"; 2010: Mario Vargas Llosa (Peru), "Tod in den Anden"; 2009: Herta Müller (Deutschland), "Atemschaukel"; 2008: J.M.G. Le Clézio (Frankreich), "Der Afrikaner"; 2007: Doris Lessing (Großbritannien), "Das goldene Notizbuch"; 2006: Orhan Pamuk (Türkei), "Schnee"; 2005: Harold Pinter (Großbritannien), "Der Hausmeister"; 2004: Elfriede Jelinek (Österreich), "Die Klavierspielerin"; 2003: John M. Coetzee (Südafrika), "Schande"; 2002: Imre Kertész (Ungarn), "Roman eines Schicksallosen"; 2001: V.S. Naipaul (Trinidad/Großbritannien), "Guerillas"; 2000: Gao Xingjian (China), "Der Berg der Seele"; 1999: Günter Grass (Deutschland), "Die Blechtrommel" dpaExtra

Der Nobelpreis für Literatur wird seit 1901 von der Schwedischen Akademie in Stockholm vergeben. Die Auswahl der Preisträger läuft streng nach Tradition. Denn Zusammensetzung und Arbeitsweise der Sprach-Akademie richten sich nach Regeln, die auf die Gründung des Gremiums 1786 zurückgehen. Die Akademie hat normalerweise 18 Mitglieder - derzeit ist ein Sitz noch frei. Sie werden von der Akademie selbst auf Lebenszeit gewählt. Bis zur endgültigen Abstimmung über einen Preisträger liegt die Hauptarbeit beim Nobelkomitee mit fünf Mitgliedern. Es wird für drei Jahre gewählt. Zurzeit gehören dazu: Per Wästberg (80) als Vorsitzender, die Schriftsteller Horace Engdahl (65), Kjell Espmark (84), Katarina Frostenson (61) und Kristina Lugn (65). Über die Beratungen für den Nobelpreis muss 50 Jahre Stillschweigen bewahrt werden. Die Auswahl der Kandidaten verläuft schrittweise. Zuerst lädt das Nobelkomitee 600 bis 700 Personen oder Organisationen per Brief dazu ein, geeignete Literaten für das kommende Jahr vorzuschlagen. Empfehlungen können aber auch ehemalige Preisträger, Sprach- und Literaturwissenschaftler, wissenschaftliche Einrichtungen und Autorenorganisationen abgeben. Niemand darf sich selbst benennen. Spätestens bis zum 31. Januar müssen die Vorschläge in Stockholm vorliegen. Für 2014 gab es laut Organisatoren 210 gültige Vorschläge. Das Nobelkomitee erstellt Namenslisten, die in der Akademie auf fünf Kandidaten reduziert werden. Jedes Akademie-Mitglied - darunter schwedische Schriftsteller, Linguisten, Historiker - beschäftigt sich dann mit dem Werk der Nominierten und erstellt Berichte. Anfang Oktober wird der Preisträger durch Wahl bestimmt. Er muss mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen. Das Geld für die Nobelpreise stiftete der Chemiker, Erfinder und Multimillionär Alfred Nobel (1833-1896). dpa

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