Literatur Hinter der Front

Eindringlich und lehrreich, voller Empathie für seine Figuren. Arno Geiger erzählt in seinem neuen Roman „Unter der Drachenwand“ vom Soldaten Veit Kolbe, der im letzten Kriegsjahr nach Hause kommt und seine Heimat nicht mehr findet. Erzählt anhand persönlicher Dokumente vom Leben im Ausnahmezustand, von verbissenen Nazis und alleinstehenden Müttern, von verzweifelten Juden und von Menschen, die nur noch auf das Ende dieser finsteren Zeit hoffen.

 Arno Geiger Unter der Drachenwand

Arno Geiger Unter der Drachenwand

Foto: TV/Verlag

Dass der Soldat Veit Kolbe in Russland schwer verwundet wird, ist sein Glück. Nur so kann er der Front endlich den Rücken kehren. Dem Krieg, der Kälte, dem Hunger, der Angst. Die Schmerzen der Granatsplitter sind nichts gegen das Elend an der Front.

Vier Jahre hat der 23-Jährige dort gekämpft, ein weiteres zuvor im Grundwehrdienst verbracht. Fünf verlorene Jahre, wie ihm 1944 im Lazarett im Saarland bewusst wird. Nach der Operation will er endlich heim, nach Wien. Doch dort hat der Krieg immer noch Anhänger. Der Vater schwadroniert weiter vom Durchhalten und Gewinnen, der Sohn bemerkt bitter: „Ich hatte den Irrsinn des Krieges gegen den Irrsinn der Familie vertauscht.“

Veit flüchtet aufs Land, an den Mondsee nahe Salzburg, wo sein Onkel als Postenkommandant im Einsatz ist. In dem Dorf,  gelegen unter der titelgebenden Drachenwand, will Veit genesen, wiewohl er weiß, dass seine Gesundung ihn nur zurückführt in den Krieg. Unter dem Eindruck von Alpträumen beginnt Veit, Tagebuch zu schreiben.

Arno Geigers Roman wirkt so, als wären Veits Tagebucheinträge sowie die Aufzeichnungen weiterer Personen in eingerückten Passagen Versatzstücke originaler Briefe und Tagebücher aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, um die herum der Autor den Roman gestrickt hat. Der Ton, die Beschreibung der Zustände, sind so klar jener Zeit entsprungen, dass sie kaum ausgedacht sein können.

Kapitelweise wechselt die Perspektive, kommen weitere Personen zu Wort, so dass die Kriegswirklichkeit in Mondsee, Wien, Budapest und sonstwo vielfältig gebrochen ist. Statt eines auktorialen Erzählers spiegeln diverse Personen die unterschiedlichen Lebenslagen und Anschauungen und lassen einfühlsam eine Innenansicht von Deutschland im letzten Kriegsjahr entstehen. Dabei verrät die Sprache der Dokumente mit ihren Redewendungen viele Wertungen aus damaliger Zeit.

„Wenn die vorne wüssten, wie gut es sich die Daheimgebliebenen machen“, stellt Veit einmal fest. Dabei hat der Krieg auch sie fest im Griff.

Da ist ein Gemüsezüchter, der nur noch darauf wartet, nach Brasilien auszuwandern und seine unverhohlene Abscheu vor dem Nazi-Regime mit der Inhaftierung bezahlt. „In einer Gesellschaft leben, in der jeder zweite ein Mörder ist, das will ich nicht“, sagt er.

Da sind die Quartiersfrau, die auf Gelegenheiten zur Denunziation lauert, und Hitler-Anhänger, „die nie über sich, aber immer über andere lachten“. Da müssen Wiener Mädchen, ins Lager auf dem Land verschickt, sich drillen lassen, während die Mutter in der Kriegswirtschaft schuftet, die Zwangsarbeiterin verzweifelt und drangsa­lierte Juden nach letzten Auswegen suchen.

Eine allein gelassene Mutter schildert der Tochter von der Zerstörung Darmstadts im Bombenhagel. Derweil ist der Onkel, das örtliche Machtzentrum, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Ein breites Spektrum menschlicher Haltungen. Im Elend blitzen auch Solidarität und Menschlichkeit auf, Rache auch und Fürsorge. Und Liebe. Diese Lektüre ist eindringlicher und lehrreicher als jede Geschichtsstunde.

Anne Heucher

Arno Geiger, Unter der Drachenwand, Roman, Carl Hanser Verlag 2018, 480 Seiten, 26 Euro.

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