Eine gegen alle

Eine Frau liegt mit eingeschlagenem Schädel in ihrer Wohnung. Für den Chef des Dubliner Morddezernates liegt es auf der Hand: eine Beziehungstat.

Denn, wie jeder gute Ermittler weiß, ist der Täter meist der Lover (nicht der Gärtner). Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Der Buchhändler Rory war für den betreffenden Abend mit der Toten verabredet.
Es könnte alles so einfach sein. Wenn da nicht Antoinette Conway wäre. Die unbeliebte Polizistin soll den Fall schnell aufklären. Stattdessen macht sie Probleme. Denn die einzige Frau im Dezernat zweifelt daran, dass der schüchterne Rory zu der Tat fähig ist. Sie wühlt in alten Akten , "schüttelt an Bäumchen und schaut, was herunterfällt." Und es fällt eine Menge herunter. Hat sich die schöne, tote Aislinn mit den falschen Leuten eingelassen? Und wenn ja, waren es die Dubliner Gangs oder gar Conways Kollegen?
Tana French führt den Leser in ihrem sechsten Roman "Gefrorener Schrei" wieder auf Dutzende Fährten, ihre Protagonistin wittert Verrat an jeder Ecke. Sie fühlt sich als einsame Kriegerin gegen ein Dezernat von Männern, die sie schikanieren, ihre Akten verschwinden lassen und in ihren Kaffee spucken. Doch Conway will nicht kuschen, kein Opfer sein und macht sich Feinde. Feinde, die nachts ihre Wohnung beobachten. Was bleibt ihr da anderes übrig als, wie ein Tier in der Falle, nach allen Seiten zu schlagen. Den Einblick in ihre Psyche gibt Conway selbst. Sie erzählt die Geschichte und tappt genauso wie der Leser im Dunkeln. Dem fällt es daher schwer einzuschätzen, ob die Ermittlerin auf der Jagd nach dem Täter oder nur nach Spukgespenstern in ihrem Kopf ist. Leidet Conway an Verfolgungswahn? Vielleicht, aber wie heißt es in diesem Zitat von Joseph Heller doch so schön: "Nur weil man paranoid ist, heißt das nicht, dass man nicht verfolgt wird."
Wer also ist Jäger, wer Gejagter, wer Opfer und wer Täter? Das sind die Fragen, um die sich "Gefrorener Schrei" dreht. Es geht um Macht, darum, wer die Oberhand hat, im Dezernat, aber auch im Verhörraum. Jeder hat etwas zu verbergen, spinnt Netze aus Lügen, die zum Verheddern einladen. Dieses Katz-und-Maus-Spiel der Figuren erzeugt Spannung. French braucht keine Gewaltorgien à la Sebastian Fitzek. Ihre Stärke liegt in Dialogen. Die wirken glaubwürdig, fast real.
Am Ende ist "Gefrorener Schrei" trotzdem kein Geniestreich wie ihr Debüt "Grabesgrün" geworden. Woran es liegt? Der Roman krankt etwas am Realismus und dem langsamen Erzähltempo. Gespräche ziehen sich über Kapitel, ständig müssen Berichte eingereicht oder angefordert werden. Auf insgesamt fast 700 Seiten bietet French zu viel Alltag und zu wenig Action.
Christian Altmayer

Tana French, Gefrorener Schrei, Fischer Scherz Verlag, 656 Seiten, 16, 99 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael Bolton Vom erwischt werden
Aus dem Ressort