Eine kalkulierte Leidenschaft

BITBURG. Zwei Schwestern und die Liebe zu einem Mann, die dramatische Stumflut von 1953 und ein zufälliger Rollentausch: Aus diesen fiktiven und realen Ereignissen hat die niederländische Autorin Margriet de Moor den Roman "Sturmflut" komponiert, den sie im Haus Beda in Bitburg vorstellte. Der TV präsentierte die Lesung.

Diese Frau steckt voller Leidenschaft. Ausgelöst von einer auf den ersten Blick zufälligen Verkettung von Ereignissen: ein leeres Zimmer auf dem Dachboden, ein alter Tisch und eine Idee. "Ich hatte eine fast beiläufige Stimmung, als ich mich dort hinsetzte, um eine Erzählung zu schreiben", sagt Margriet de Moor. "Doch als ich damit anfing, wurde es zu einer Leidenschaft." Sogar mehr als das. Denn was für die 64-jährige Niederländerin Lebenselixier ist, wurde ein Erfolg. Von Kritikern und Lesern gelobt wurde ihr erstes Buch, der Erzählband "Rückenansicht", der 1988 erschien. De Moor war damals Mitte 40. Die Spätstarterin machte weiter - sie kann nicht anders. "Die Figuren und Handlungen werden zu einer Obsession, sobald ich daran arbeite" sagt sie. Zugleich lenkt de Moor ihre Leidenschaft in strenge Bahnen. "Ich habe einen Plan, bevor ich beginne. Schreiben ist eine sehr rationelle und sehr inspirierte Arbeit", erklärt sie. Eine kalkulierte Leidenschaft. Dieses Gefühl hegt de Moor auch für Lidy und Armanda, die Hauptfiguren aus ihrem Roman "Die Sturmflut", die die erfolgreichste Autorin der Niederlande mit nach Bitburg gebracht hat. Denn die beiden Schwestern sind noch immer dabei, wenn die Schriftstellerin auf Lesereise geht. Sie sind in de Moors Denken und Fühlen noch präsent, obwohl die Autorin bereits 1998 ihren Roman abgeschlossen hat. "Beide Figuren sind sehr dominant. Es ist gar nicht einfach, sie aus meinem Kopf zu bekommen. Aber allmählich gelingt es", erklärt de Moor Moderator und Literaturkritiker Martin Lüdke, der die etwa 300 Gästen des Eifel Literatur Festivals im Haus Beda durch den Abend führt. Kalkulierte Leidenschaft. Sie treibt auch Armanda an. Dumm nur ist, dass ihr Schwarm Sjoerd der Mann ihrer jüngeren Schwester Lidy. Aber als Lidy Ende Januar 1953 mit Armanda die Rolle tauscht, statt ihrer vom Festland zu einer Familienfeier an die Nordsee nach Zierikzee fährt und in die verheerende Sturmflut gerät, die, wie später bekannt wird, mehr als 1800 Menschen Leben kosten wird, schleicht sich der Gedanke in Armandas Bewusstsein, dass das Verschwinden der Schwester ihre Chance sein könnte. Leise, ganz leise, in einem Traum durchfährt es Armanda wie einen Blitz, "dass dieser Mann genauso gut von ihr hätte geliebt werden könne. Die Schläferin dachte lange über diese Wahrheit nach, die sie nicht erschreckte, sondern sie im Gegenteil sehnsüchtig und heimlich warten ließ, während die Stunden zeitlos vergingen." Während sich in Armandas Leben der Sturm der Leidenschaft anbahnt, brechen in Lidys Leben tatsächlich bald alle Dämme. Lidy wird für tot erklärt, aber ihre Leiche erst viele Jahre später gefunden. Armanda heiratet Sjoerd und glaubt lange, Lidys Leben weiter zu führen, bis sie mit 75 Jahren stirbt, während Lidy auf etwa genauso vielen Seiten des Buchs 36 Stunden lang um ihr Leben kämpft - auf einem Stück Holz in den Fluten treibend. Beide Leben schildert de Moor in zwei parallel verlaufenden Erzählsträngen, die sich am Schluss des Romans, in beider Todesstunde, noch einmal treffen. "Ein Spiel mit der Zeit", sagt die ausgebildete Pianisten und Sängerin. Eine konzeptionelle Meisterleistung, sagen viele Kritiker. Denn de Moor versteht es, durch diesen stilistischen Kniff, der an eine Komposition erinnert, zu zeigen, dass beide Leben trotz des unterschiedlichen Verlaufs "komplett sind". Kalkulierte Leidenschaft zeigt sich aber auch im Sprachstil und der Intonation. Denn völlig ohne Pathos, fast kühl und mit sparsamer Information über die Gefühle der Protagonisten schildert sie diesen Stoff, der - nicht so klug verarbeitet - gefährlich nah am Kitsch landen würde. Zugleich lässt de Moors Kunst des Weglassens dem Leser Raum für eigene Phantasien und Gedanken. Die Figuren erlauben das, sind sie weder platt noch eindimensional dargestellt. Es gibt keine Schuldzuweisungen, kein Gut und Böse. "Ich liebe alle meine Figuren", sagt de Moor, auch wenn sie Mörder seien.

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