Eine Oper rückt ins Licht der Welt: Trierer Publikum feiert die Uraufführung von Anna Thorvaldsdottirs Werk "Ur_"

Trier · Karl Sibelius hat hoch gepokert. Eine Uraufführung einer in Deutschland eher unbekannten Komponistin als Auftakt nicht nur einer neuen Theatersaison, sondern seiner Intendanz in Trier war gewagt. Doch das Publikum feierte die Oper "Ur_" der Isländerin Anna Thorvaldsdottir.

 Grandiose Stimme: Vokalakrobatin Søfia Jernberg überzeugt in ihrer Arie mit ihrem klaren Sopran. TV-Foto: Friedemann Vetter

Grandiose Stimme: Vokalakrobatin Søfia Jernberg überzeugt in ihrer Arie mit ihrem klaren Sopran. TV-Foto: Friedemann Vetter

Der Text - Nebensache. Wichtig ist Anna Thorvaldsdottir die Atmosphäre, die musikalische Aussage. Und die kommt in großen Teilen an. Da ist dieses dreigliedrige Wesen - das weilbliche Element (Mezzosorpanistin Melis Jaatinen), das männliche (Bariton Joa Rasmus Helgesson) und das Zwischending (Vokalistin Søfia Jernberg) - das laut atmend wie aus einer Art Winterschlaf erwacht, seine Stimme und damit seine Identität findet, auseinanderdriftet und sich doch immer wieder nach Einheit sehnt - für jedes dieser Punkte steht eines der sieben Teile des Werks. Und da ist diese Suche nach dem Ursprung, dem "Ur_", der Thorvaldsdottirs erster Oper, die am Theater Trier ihre umjubelte Uraufführung erlebt, ihren Namen verlieh. Und die Frage, wie kam es zur Gegenwart.Ungehörte Klangbilder


Die menschlichen Laute spiegeln sich im Spiel des bit20 Ensembles aus Norwegen wider. Die Instrumente atmen mit: Perkussionisten streichen sanft über Paukenfelle, Streicher fahren sachte mit den Fingerspitzen über die Saiten, Ingela Øien haucht über ihre Flöte. Auch die schier un-, ja übermenschlichen Geräusche, die Jernberg von sich gibt, finden ihre Entsprechung im Orchester. Die zwölf Musiker und Dirigent Baldur Brönnimann gehören zu den führenden zeitgenössischen Ensembles in Nordeuropa und beherrschen ihre Instrumente nicht nur im klassischen Sinne - sie entlocken ihnen auch ungehörte Klänge. Ebenso wie Tinna Thorsteinsdottir, die Töne aus dem Inneren des Flügels hervorzaubert und nur kurz in die Tasten haut.

Es lohnt, zwischendurch die Augen zu schließen, Thorvaldsdottirs wunderbare Klanggemälde im Kopf Form annehmen zu lassen und den herrlichen Stimmen zu lauschen. Sich einzulassen auf diese schier meditative Musik, auf die Natur Islands, seine Weite und seine Schroffheit, aber auch Einsamkeit und zu viel Nähe, Eintracht und Zerrissenheit.

Saiten knarzen, Pauken kratzen, die Flöte quietscht. Die Instrumente verbinden Klanggebilde zu Tonfolgen, verknüpfen diese zu Melodien, zu Arien. Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson nutzt diese Entwicklung, um der menschlichen eine musikalische Genesis entgegenzustellen: die der Oper. Die mit Jernbergs Arie auf die Spitze getrieben wird. Die Vokalakrobatin singt wie sie im Zeitraffer, die Dramatik steigt - inklusive Liebe und Tod im Schnellverfahren, symbolisiert durch rote und schwarze Farbe.

Wer Thorvaldsdottirs Sinfonien kennt, wird erstaunt sein über die Melodik ihres neuen Werks. Vor allem die der lyrischen Arie, die Jaatinen mit äußerster Präzision und klarer Stimme singt. Dazu steht sie in weißem Pelzmantel auf dem Flügel, das Sinnbild für die Geburt der Oper, begleitet er doch die Proben bis zum Einsatz des Orchesters. Hier scheint Arnarssons Inszenierung etwas effekthascherisch, etwa wenn Helgesson mit Gorillamaske auf einem Miniflügel spielt. Arnarsson legt ein Großteil der Inszenierung in Dunkelheit. Akzente setzt er mit gleißendem Licht, das anfangs die Dreiheit verbindet, dann trennt und zum Schluss verschmelzen lässt.Grönländische Mythologie



Miké Thomsens Rolle als "zen trales Wesen", das die Dreiheit verbindet, wird nur zu Anfang des Stücks deutlich, wenn er den drei Sängern Lichterketten in die Hand drückt. Dann verblasst sie; vielmehr erscheint er als Bühnenarbeiter, rückt den Flügel zurecht, schiebt Kulissen. Bis er den Schlussakkord setzt: Mit nacktem Oberkörper sitzt er auf der Bühne, erzählt die grönländische Mythologie in seiner Muttersprache Inuit. Sein Ausdruck, seine Mimik und Gestik sagen mehr als Worte. Ein Märchenerzähler, der den 400 Zuschauern warnende Worte mitgibt.

Wer das Stück noch sehen will, muss weit fahren: Am 18. und 19. September wird es in Oslo/Norwegen gezeigt. 2016 zieht die Oper nach Chur/Schweiz, Reykjavik/Island und Wiesbaden. In Planung: Peking/China, Grönland, New York, Berlin.

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