Literatur Eine Zeit, um den Verstand zu verlieren

Bitburg · Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu Gast beim Eifel-Literatur-Festival in Bitburg.

 Swetlana Alexijewitsch rechts mit Dolmetscherin Ganna-Maria Braungardt.

Swetlana Alexijewitsch rechts mit Dolmetscherin Ganna-Maria Braungardt.

Foto: TV/Eva-Maria Reuther

„Der Mensch, der einzelne Mensch hat mich schon immer fasziniert. Denn im Grunde passiert alles dort“, schreibt sie  in der Einführung zu ihrem düsteren Epos „Secondhand-Zeit“.  Und so sind  Swetlana Alexijewitschs Gesprächserzählungen, die den Untertitel „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ tragen,  nicht nur die Suche nach der „Geschichte des alltäglichen und inneren Sozialismus“, sondern auch ein erschütternder Bericht von der ewigen Tragödie menschlicher Verhältnisse und dem Ende der Illusionen. Subtil und mitfühlend hinterfragt  die Autorin die Geschehnisse in der ehemaligen Sowjetunion, lässt außerhalb der offiziellen Verlautbarungen Verlierer wie Gewinner zu Wort kommen.

Im Rahmen des Eifel-Literatur-Festivals war die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin jetzt zu Gast im Haus Beda. Unter den Besuchern im bis auf den letzten Platz gefüllten Saal  begrüßte Festival-Chef Josef Zierden auch eine aus Minsk stammende Zuhörerin,  dem Wohnort der Schriftstellerin. Ein Grußwort hatte der erkrankte Landrat des Kreises Bitburg-Prüm, Joachim Streit, übermitteln lassen. Die 1948 in der Ukraine geborene Weißrussin, deren Bücher lange nicht in  ihrem Heimatland verlegt werden durften, ist nach Imre Kértesz, Günter Grass und Herta Müller das vierte Mitglied der illustren Runde der Literaturnobelpreisträger, das am Festival teilnimmt. Mit ihrem epochalen „vielstimmigen Werk setze die Autorin Leiden und Mut ein Denkmal“, hatte das Nobelpreiskomitee  2015 seine Entscheidung begründet.

Als eine dem Menschen zugewandte, zutiefst humane, der Wahrheit verpflichtete Aufklärerin erwies sich Swetlana Alexijewitsch auch in Bitburg. Ihre differenzierte Wahrheitssuche ist in vieler Hinsicht erhellend, erst recht für jene Westler, die allzu schnell glauben, die Verhältnisse in den einstigen Sowjetrepubliken zu durchschauen. Dass die Frau mit dem mütterlichen Gesicht und der weichen Stimme, die sich so brisanten Themen wie den Folgen von Tschernobyl , Kriegserinnerungen und dem Untergang der sozialistischen Utopie widmet, entschlossen ist, die Dinge beim Namen zu nennen, zeigt sich neuerlich an diesem Abend. Notwendigerweise verläuft er anders als übliche Lesungen. Da Swetlana Alexijewitsch kein Deutsch spricht,  ist ihre Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt mitgekommen, die Zierdens Gespräch mit der Autorin dolmetscht und Texte aus „Secondhand-Zeit“  liest. Gleich eingangs die  unvermeidliche Frage nach den Reaktionen auf den Nobelpreis: Beim Bügeln hatte die frohe Botschaft die studierte Journalistin erreicht, die spätestens seit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2013 als Nobelpreisfavoriten gehandelt wird. Nicht jeder freute sich mit ihr. Angesichts ihrer kritischen Texte, die vor der Diktatur im eigenen Land ebenso wenig Halt machen, wie vor der Herrschaft Putins, sei sie sogar des Verrats und der Verleumdung bezichtigt worden. Die Autorin bleibt gelassen. „Das Leben ist zu kurz, um Hass zu empfinden oder sich als Opfer zu fühlen.“

Alexijewitsch ist eine unerbittliche Wahrheitssucherin, die unerschrocken, aber einfühlsam nachfragt. und dabei Vertrauen aufbaut. „Ich wollte ehrliche Antworten haben, und danach habe ich gesucht“, sagt sie schlicht. Die Wahrheit hat viele Stimmen, weiß die Schriftstellerin. Sie hat den Menschen auf der Straße ebenso zugehört,  wie den Küchengesprächen der Intellektuellen und den Lebensgeschichten von Bauern und ehemaligen Militärs. Von Verhaftung, Angst, Gewalt, Tod und Selbstmorden ist dabei immer wieder die Rede. Themen, die offiziell totgeschwiegen werden.

Zu Hause unter der Diktatur Lukaschenkos  herrsche ebenso wie im benachbarten Russland ein Klima der Angst und Gewalt, berichtet Alexijewitsch. Auch Putins aggressive Politik entspringe der Angst vor den Spannungen und Problemen im eigenen Land. Mit Verboten und Gewalt versuche man,  die Vision des mächtigen großen, unangreifbaren russischen Staates aufrechtzuerhalten. Die freiheitlichen Bewegungen der Perestroika hätten sich ins Gegenteil verkehrt.  „Als es mit der Demokratie nicht klappte,  ist man zu dem zurückgekehrt, was man kannte“, klagt Alexijewitsch.

Mehr noch: Dem Sozialismus sei in Russland ein gnadenloser Kapitalismus gefolgt.  Viele hätten gehofft, mit dem Ende des Sozialismus  werde alles  wie im Westen. Doch das habe sich als Illusion erwiesen. „Wir haben erst vor kurzem gelernt, dass Freiheit ein langer Weg ist“, sagt die Autorin.  Die  russischen Verhältnisse, das Streben nach Größe und Macht, sind für die Schriftstellerin in der russischen Geschichte wie in der Eigenart des Homo Sovieticus begründet. „Ein Stück Putin steckt in jedem Russen“. Etwa 60 Prozent der russischen Bürger stünden hinter dem Machthaber, schätzt die Schriftstellerin. Es ist ein düsteres Resümee, das die Autorin zieht. „Schon der Anspruch, dass Russland über allem stehe, macht mir Angst. Wir leben in einer Zeit, in der ich das Gefühl habe, dass die Gesellschaft den Verstand verliert.“ Für die Nobelpreisträgerin steht fest: „Um wirklich frei zu werden, ist es nötig, offen über die Dinge zu reden“.

Geduldig wie bei der Recherche bleibt die Autorin auch in Bitburg. Nach dem begeisterten Applaus ihrer Zuhörer signiert sie einer schier endlosen Menschenschlange ihre Bücher.

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