Endstation Petrópolis

Petrópolis/Wien · In Zeiten des Zerfalls ist sein Werk hochaktuell: Stefan Zweig beging vor 75 Jahren im Exil Selbstmord.

Petrópolis/Wien (dpa) Der weiße Bungalow liegt steil am Berghang, im Garten befindet sich ein auf den Boden gemaltes Schachbrett mit großen Figuren. Als er hier ankam, schrieb Stefan Zweig im September 1941: "Wir sind heute glücklich übersiedelt. Es ist ein ganz winziges Häuschen, aber mit großer gedeckter Terrasse und wunderbarem Blick. (…) Aber endlich ein Ruhepunkt für Monate, und die Koffer werden eben auf langes Niemehrwiedersehen verstaut." Fünf Monate später sind Zweig und seine Frau Lotte tot. Sie haben sich in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 das Leben genommen, vergiftet mit einer Überdosis Schmerzmitteln. In Brasilien hielten sich lange Gerüchte, Schergen von Hitlers Gestapo seien dem ins Exil nach Brasilien geflüchteten Schriftsteller gefolgt und hätten ihn getötet. Doch es war ein selbstbestimmter Weg, ein tragisches Ende nach acht Jahren Flucht. Als das Paar aus dem Leben schied, hatten die Alliierten gerade Singapur an die Japaner verloren. Der spätere Sieg gegen die Nazis und die Verbündeten in Fernost zeichnete sich noch nicht ab. "Für viele war es eine Art Desertion", meint Zweig-Biograf Ulrich Weinzierl. Denn im Vergleich zu vielen anderen Exilanten ging es dem damals 60-Jährigen, ohnehin aus einer äußerst begüterten jüdischen Fabrikantenfamilie, zumindest finanziell glänzend. Er war seit den 1920er Jahren zum meistgelesen deutschsprachigen Autor geworden. Der Biograf hat zuletzt in seinem Buch "Stefan Zweigs brennendes Geheimnis" (2015) das erotische Leben des Autoren von "Ungeduld des Herzens" oder "Verwirrung der Gefühle" analysiert. Dass Zweig neben vielen sexuellen Abenteuern mit wohl äußerst jungen Mädchen, auch flüchtige Begegnungen mit Männern hatte, schien ihm weniger verstörend, als der Umstand, dass er ein Exhibitionist war. Überschattet war der Ruf Zweigs seit der Machtergreifung der Nazis 1933 aber von etwas Anderem. Der 1934 zunächst nach England geflohene Jude konnte sich nie aufraffen, öffentlich gegen seine Verfolger Stellung zu beziehen. "Er konnte nicht hassen, nicht einmal die Nazis", vermutet Weinzierl. Auch im Exil blieb er äußerst produktiv, bis in die letzten Lebensmonate hinein. Auf der Terrasse seines Hauses in Petrópolis schrieb Zweig 1941 seine berühmte "Schachnovelle" zu Ende: Über das Duell zwischen Dr. B., der einst in Nazi-Haft in Österreich ein Schachbuch in die Hände bekommt, Partien auswendig lernt und an Bord den mitreisenden Schachweltmeister Mirko Czentovic schlägt. Es sind die Themen seines Lebens: Die dunkle Zeit in der Heimat, die Zerstörung von Kultur und Menschen. Der Gang ins Exil, Einsamkeit. In der Casa Zweig in Petrópolis hängt auch der vom 22. Februar 1942 datierte Abschiedsbrief, in dem er von der geistigen Vernichtung Europas spricht. Zweigs letzte Worte: "Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus." Einige Schriften, das Ringen um den Zusammenhalt Europas, für Toleranz und Frieden, sind in Zeiten von Brexit und weltweiten Verwerfungen hochaktuell. Die Casa Zweig ist heute ein kleines Museum. Kristina Michahelles, die Hüterin des Erbes von Zweig in Brasilien, sieht eine Zweig-Renaissance: "In vielen Bücherregalen steht Stefan Zweig heute wieder vorne."

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