Erik und Lotte

LotteEs muss wohl furchtbar sein, gemobbt zu werden. Erik weiß bestimmt, wie das ist.

Sofort verdrängte Lotte den Gedanken und versuchte, sich wieder auf ihr Buch zu konzentrieren. "Hilf deinem Bruder. Bitte, aber dann musst du die Konsequenzen selber tragen. Ich kann ganz schnell die fiesesten Gerüchte über dich verbreiten oder dich zu Matsch zerschlagen, bevor du sie zu hören bekommst", hatte Felix gesagt. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Lotte drehte sich schluchzend zur Seite und legte ihr Buch auf den Nachttisch. Sie versuchte verzweifelt zu schlafen, aber ihre Gedanken wirbelten wie wild umher. "Du wirst sie ganz höflich nach Geld fragen. Du hast doch so eine süße Stimme. Und wenn sie dir das Geld nicht geben, kommen wir und zerhauen sie zu Brei, klar?", dröhnte Felix Stimme.
Felix hatte sie vor weniger als einem Monat angeheuert und ihr mit schrecklichen Konsequenzen gedroht, wenn sie Nein sagen oder ihn verpetzen würde. Anfangs musste sie nur jüngere Schüler nach Geld fragen oder ihnen ihre Handys abknöpfen, aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Sie sah zu, wie Felix Unschuldige zusammenschlug und dabei fies grinste. Und irgendwann hatte er beschlossen Erik, Lottes kleinen Bruder, zum Opfer zu machen.
Lotte schniefte. Sie erinnerte sich gut an Eriks klare Stimme, als er sagte: "Lotte, beende die Sache! Ich brauche deine Hilfe!!! Alleine schaffe ich das nicht. Wir sind doch Familie. Du hast viel mehr Kraft. Du bist vier Jahre älter. Bitte!!!"
"Erik, du darfst mit niemandem darüber reden. Ich bin für dich da, aber das hier verstehst du noch nicht. Er droht mir. Bitte, hab Geduld, bald werde ich dir ja helfen." Hatte sie gesagt und seine Haare gestreichelt.
Einmal musste sie zusehen, wie Felix auf ihren zehnjährigen, wehrlosen Bruder einschlug, und sie hatte ihn gebeten, Erik in Ruhe zu lassen. Felix hatte sich darauf eingelassen, ihn nur freundlich um Geld zu bitten, wie er das nannte. Freundlich war anders.
Erik hatte Stress zu Hause. Ihre Eltern verstanden nicht, warum andauernd Geld verschwand. Und Lotte war doch schließlich das brave Mädchen mit den Einsen in Mathe. Sie hatte in der Schule gelernt, sich in solchen Situationen zu helfen, aber das dann in der Wirklichkeit einzusetzen, war etwas ganz anderes ...
Am nächsten Morgen versuchte sie, Erik beim Frühstück, im Bad und auf dem Schulweg nicht zu begegnen. Sie konnte es nicht ertragen, in seine blauen Augen zu sehen. Lotte stand vor dem großen Schulgebäude, und sie bekam Angst. Sie hatte alles verloren. Sie war beliebt gewesen, aber dann hatte sie sich gesagt: Lass es! Irgendwann wirst du sie um Geld bitten und sie dann zusammenschlagen. Besser, du hast keine Freunde.
Jetzt hatte sie niemanden zum Reden, niemanden, der ihr half. Und schließlich war ihr Durchschnitt in Mathe auf vier gesunken. Ihre Eltern nannten das "eine pubertäre Phase", die sich aber wieder legen würde. Der Unterricht zog sich wie zäher Kaugummi. Immer wieder trafen sie missbilligende Blicke, aber sie versuchte, das so gut es ging zu ignorieren.
Es gongte. Endlich. Lotte trat auf den Schulhof und genoss die Sonne. Sie blieb stehen. Einen Moment zu lange. Zu spät, aber Erik hatte sie schon entdeckt. Ihm musste heute Morgen etwas passiert sein, denn seine Haare standen ihm zu Berge. In seinem Gesicht lagen tiefe Schatten. Lotte glaubte in seinen Augen Wut und Qual zu sehen. Sein Ausdruck sprach für Sorge. So wirkte er viel älter, als er war. Als Erik auf sie zukam, rannte Lotte los, so schnell sie konnte. Erik war ein schneller Läufer, und er lief ihr hinterher. Früher hatten sie gerne fangen zusammen gespielt, dachte Lotte und lächelte traurig, aber dann wurde sie wieder ernst.

Erik
Erik musste um jeden Preis noch mal mit Lotte sprechen. Er hatte so viele Fragen. Warum Lotte ihm nicht half, oder ihm nicht sagte, womit Felix ihr drohte? Ihm war es egal, von seinen Eltern für einen Dieb gehalten zu werden, und ihm war es egal, von Felix geschlagen zu werden. Und glaubt ja nicht, dass es angenehm ist, von einem ein Meter achtzig großen Typ mit Baseballschläger geschlagen zu werden, der dabei ungefähr so dreinschaut wie Joker.
Erik machte sich Sorgen um Lotte. Er wollte ihr helfen, wenn er das nur könnte. Sie sagte ihm gar nichts. Was zwischen ihr und Felix war, warum sie ihrem eigenen Bruder nicht traute und warum sie ihm all das nicht verriet.
Felix hatte keinen sicheren Ort mehr. Zu Hause wurde er verdächtigt. In der Schule ausgelacht, weil er immer so zerzaust aussah und einmal mit gerissenem T-Shirt in die Schule kam. Selbst bei seiner Schwester fand er keine Zuflucht, und draußen wartete Felix ja schließlich auf ihn. Heute Morgen war Erik Lotte weder beim Frühstück noch im Haus begegnet.
Als er aus dem Haus kam, packte ihn Angst. Felix wartete im Wald, das hatte er zumindest gesagt, aber Erik wählte den üblichen Schulweg, um Lotte noch einzuholen. Auf halbem Weg legte jemand seine Hand auf Eriks Schulter. Er drehte sich ruckartig um und sah Felix. "Na, nicht so eilig, Kleiner. Hast wohl geglaubt, wir warten im Wald. Aber wir sind nicht dumm. Wissen ja, dass auf zehnjährige Strolche kein Verlass ist. Naja, da du nicht zu uns kommen wolltest, sind wir zu dir gekommen. Nehme an, deine Streberschwester ist schon in der Schule!", sagte er, und alle lachten. Alle außer Erik.
Wie viele waren es? Sieben, acht oder vielleicht auch neun? Er wusste es nicht. Sein Kopf brummte vor Wut. Erik hätte Felix am liebsten geschlagen, getreten oder geschubst, aber er war leider gegen ihn machtlos, und das wusste er auch. Felix holte zum Schlag aus, aber Erik wich flink aus, sprang zur Seite, rannte einen von Felix Kumpels über den Haufen und lief dann in Richtung Schule.
Er stand keuchend vor dem Schulgebäude und rang nach Atem. Er war schon zu spät und lief ins Klassenzimmer. Noch eine Strafarbeit. Vielleicht würde Felix sie ja machen, aber Erik verdrängte diesen albernen Gedanken. Seine Klassenkameraden warfen ihm verachtende und belustigte Blicke zu. Er ignorierte das, so gut er konnte. Konzentrieren konnte er sich jedoch nicht. Immer wieder dachte er an Lottes verängstigtes Gesicht. Nach der letzten Stunde stürmte er aus dem Klassenzimmer. Er musste Lotte noch erwischen, bevor sie nach Hause kamen und er keine Chance mehr haben würde, sie zu sehen. Lotte würde sich in ihrem Zimmer einsperren, und bevor er etwas machen konnte, würde er von seinen Eltern verhört werden. Und ja, das konnte den ganzen Tag dauern. Dann sah Erik Lotte. Einen Moment lang stand sie vor dem Eingang und blinzelte, bevor sie ihn sah. Dann rannte sie los und Erik hinterher. Hinter den Schultoren hatte er sie eingeholt. Eins musste man ihm lassen: Er war schnell. Erik packte seine Schwester am Handgelenk.
"Gib mir eine Minute, bitte!", sagte er mit bebender Stimme. Lotte nickte, sah ihn aber nicht an. Erik holte tief Luft: "Lotte. Ich mach mir Sorgen um dich. Was will Felix von dir? Wir könnten Hilfe holen!"
"Keine Hilfe!", fauchte Lotte. Erik starrte sie fassungslos an, aber unterdrückte seine Wut. Langsam setzte er wieder an: "Lotte. Ich schaffe das nicht mehr lange. Keine Freunde. Meine Eltern halten mich für einen Dieb. Dauernd werde ich überfallen, und nirgends bin ich sicher. Und am allerschlimmsten: Du fehlst mir, und ich mache mir Sorgen um dich. Gemeinsam können wir das beenden. Bitte, lass den Blödsinn." Ungewollt waren sie weitergegangen und hatten jetzt den Waldrand erreicht. Und da, neben ihnen, aus dem Gebüsch, tauchte Felix auf und meinte grinsend: "Interessant! Also Lotte, magst du die Soziale spielen und ihm helfen?" Erik erschrak und spürte, wie sich ein kalter Finger in seinen Nacken bohrte. Bitte, dachte er, bitte Lotte, tu irgendetwas. Hilf mir! TU WAS!

Lotte
Das Gespräch mit Erik fiel ihr schwer. Sie hatte ihn nicht ansehen können. Lotte hatte sich eine Unterbrechung gewünscht, aber der Letzte, an den sie gedacht hatte, war Felix. Das Problem: Fast nie kam jemand über den Feldweg gelaufen. Es war eine Abkürzung, die zu ihrem Haus auf der anderen Seite des Waldes führte. Erik und sie mieden diese Abkürzung generell, aber eben waren sie sie irgendwie automatisch gegangen. Niemand konnte sie hier hören oder sehen. Ein guter Ort, um Leute höflich um Geld zu bitten.
Lotte, sagte Felix immer. Und jetzt stand er da, die Hand um Eriks Hals gelegt und in der anderen den Baseballschläger. "Na Lotte? Willst du Erik vermöbeln oder soll ich das machen?"
Lotte hatte einen Kloß im Hals. "Lass i-ihn 1-los!", brachte sie hervor.
Erik sah sie flehend an. "Nett, dass du Erik hierher gebracht hast. Gute Arbeit. Er ist mir noch was schuldig!", fuhr Felix lachend fort.
Eriks Blick richtete sich wütend auf Lotte, und seine Lippen formten nur das eine Wort: Verräter.
"Glaub ihm nicht, Erik! So was würde ich nicht tun!", flehte Lotte.
Felix brach in Gelächter aus: "Klar, Lotte! Genauso wenig, wie du all die anderen kleinen, armen, unschuldigen Kinder in die Falle gelockt hast!" Erik schaute zu Boden. Sie wusste, was er dachte: Er konnte nicht fassen, dass sie und Felix ein eingespieltes Team waren. "Also Lottelein, pass auf, entweder du schlägst zu oder ich", sagte Felix mahnend.
Aus dem Wald war ein Ruf zu hören. "Tut mir leid. Gibt ein paar Probleme mit meinen Kollegen. Passt auf, das soll euch eine Lehre für Gehorsamkeit sein, aber das nächste Mal kommt ihr nicht so leicht davon." Er legte den Schläger aus der Hand, hielt Erik aber immer noch fest, drehte ihn herum und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. Lotte stand wie angewurzelt da. Erik taumelte zurück und versuchte, sein Gleichgewicht zu halten. Felix verschwand im Gebüsch.
Lotte wollte Erik helfen, aber er stieß sie zurück und fauchte: "Du ... du hast Kinder zusammengeschlagen."
Lotte schüttelte den Kopf, was Eriks Stimmung aber nicht besserte. "Dann hast du halt zugeschaut! Noch schlimmer! Und als dein eigener Bruder in Gefahr war, hast du nichts getan?!"
Er wirbelte herum und rannte davon. Sein Auge war inzwischen rot gefärbt. Lotte war wie festgewurzelt. Sie fühlte sich so elend und schuldig. Ihr eigener Bruder, und sie hatte nichts getan, nicht einmal den Täter angeschrien oder die Polizei gerufen? Nein, dachte Lotte. Sie hatte Angst gehabt. Angst gehabt, zum Gespött der Schule zu werden ... nirgendwo mehr Freunde zu finden ... immer abgewiesen zu werden. Denn sie wusste, Felix würde nicht lange damit warten, Gerüchte über sie zu verbreiten. Und wer weiß, ob sie nur mit Gerüchten oder einem blauen Auge davongekommen wäre. Aber dennoch, Erik war ihr kleiner Bruder. Er hatte ihr helfen wollen. Sie hätte ihn beschützen müssen und nicht anders herum.
Plötzlich wurde sie unheimlich wütend auf Felix. Sie lief, so schnell sie konnte, durch den Wald. Keuchend stand sie vor der Haustür, als ihre Mutter besorgt die Tür öffnete. "W-wo ist Erik?", krächzte sie. " In seinem Zimmer. Keine Sorge, wir haben ihn unter Kontrolle. Geht es dir gut? Hat er dir was getan? Ach, komm erst mal rein!", sagte ihre Mutter kühl. Lotte musste das alles erst mal verarbeiten. Sie machten Erik für alles verantwortlich? Als sie im Wohnzimmer ankam und das besorgte Gesicht ihres Vaters sah, machte sie eine Handbewegung, um ihrer Mutter zu zeigen, sie solle sich doch hinsetzen.
Lotte nahm ihren ganzen Mut zusammen und begann: "Das ist ein ganz großes Missverständnis! Ich glaube, ich bin euch eine Erklärung schuldig. Alles begann vor ungefähr einem Monat, als ich einem Jungen auf der Straße begegnet bin. Er hieß oder heißt, besser gesagt, Felix ...". Sie sprach diesen Namen so angewidert aus, dass ihr Vater die Augen zusammenkniff, wie um festzustellen, ob dies wirklich seine Tochter war. Und dann erzählte sie weiter und ließ kein Detail aus. Als sie geendet hatte, holte ihre Mutter tief Luft: " O.k., ich glaube, es ist an der Zeit, die Polizei zu rufen." Und dann reichte sie Lotte das Telefon. Lotte blinzelte nervös. Für Erik, dachte sie.

Erik
Erik klingelte Sturm an der Haustür, und sein Vater öffnete genervt. "Erik, was soll denn das ... um Himmels willen!!! Was hast du denn schon wieder verbrochen? Dein Auge ist ganz blau. Komm sofort rein und rede mit deiner Mutter. Vielleicht könntest du es uns einmal erklären!", grunzte sein Vater wütend, aber Erik konnte das alles nicht erklären. Seine Mutter hatte den gleichen bösen Blick drauf wie sein Vater.
Erik setzte zitternd an: "Ich war in keine Schlägerei verwickelt. Also irgendwie schon, aber ... egal. Und wo Lotte ist, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie sich ja verlaufen!" Erst dann bemerkte Erik, wie dämlich das klang.
"Erik, geh auf dein Zimmer, solange du keine richtige Antwort zustande bringst!", schrie seine Mutter und fuchtelte dabei hysterisch mit den Händen herum.
Erik trottete auf sein Zimmer. Er knallte die Tür hinter sich zu und ließ sich auf das Bett fallen. Seine Schwester ist eine Lügnerin! Sie ist gewalttätig! Kriminell, dachte Erik. Er liebte seine Schwester, aber das war zu weit gegangen. Was immer Felix gesagt oder womit er auch gedroht haben mag, Lotte hätte in Erik immer einen Freund und Bruder gehabt. Er hätte ihr geholfen.
Eigentlich hatte Lotte es verdient, dass Erik sie verriet, sie hatte ihn schließlich auch verraten. Aber Erik hatte doch Mitleid. Irgendwann würde Lotte bestimmt mit ihren Eltern reden, und dagegen hatte Erik nun wirklich nichts. Schließlich wurde er hier als Verbrecher angesehen.
Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, dass seine Gedanken noch so kreisten, aber dann hörte er ein aufgeregtes Stimmengewirr. Er wartete noch, eine Minute, zwei, drei, vier. Und nach ungefähr einer Viertelstunde schlich er die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Sein Vater hatte ihn bemerkt und winkte ihn herein. Und neben Lotte standen zwei Polizisten. Der eine sah freundlich aus und sagte: "Hallo, Erik. Möchtest du aussagen über das, was geschehen ist?" Erik wollte den Kopf schütteln, aber Lotte nickte ihm zu ...

Erik und Lotte
Erik und Lotte hatten bei der Polizei ausgesagt, und kurz darauf wurde Felix gefasst. Der Richter sprach Lotte und Erik frei, aber er sagte auch, dass man in der Polizei immer einen Ansprechpartner habe. Und als er den Blick des Vaters von Lotte und Erik sah, fügte er hinzu, in der Familie natürlich auch. Felix wurde zu vielen Sozialstunden und Gesprächen mit professioneller Hilfe verdonnert. Lotte entschuldigte sich, sooft sie konnte, bei Erik, der ihr aber nicht lange böse sein konnte. Auch die Eltern der beiden entschuldigten sich bei Erik. Die Geschwister hatten beschlossen, die Schule zu wechseln und noch mal ganz neu zu beginnen ...

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