Interview Thorsten Latzel „Kirche muss sich auf Seite der Opfer stellen“

Interview | Düsseldorf/Trier · Der neue Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland über Missbrauchs-Aufarbeitung, Ökumene und das Prinzip Hoffnung.

 Der neue Präses Thorsten Latzel bei der Amtseinführung.

Der neue Präses Thorsten Latzel bei der Amtseinführung.

Foto: dpa/Hans-Juergen Bauer

Thorsten Latzel ist neuer Präses der Rheinischen Landeskirche. Damit steht der Theologe an die Spitze der mit 2,4 Millionen Mitgliedern zweitgrößten evangelischen Landeskirche in Deutschland. Im Gespräch äußert sich der 50-Jährige zur Rolle der Kirche in der Gesellschaft, zum Missbrauchsskandal und zu Fragen der Sterbehilfe.

Herr Latzel, Sie starten in nicht ganz einfachen Zeiten für die Kirche – in Köln reichen die Termine für die Kirchenaustritte für Katholiken kaum noch. Hintergrund sind wohl vor allem die Missbrauchsskandale und der Umgang damit. Wie begegnet die evangelische Kirche der wachsenden Skepsis an den Institutionen?

Thorsten Latzel Das sind für mich zwei Themen. Zum schweren Thema sexueller Gewalt: Das ist ein beschämendes Thema für die Kirchen, besonders, weil es hier um Institutionen geht, die für die Sorge um die Seele zuständig sind. Ausgerechnet dort haben einzelne Personen Gewalt ausgeübt und eben kein schützendes Umfeld geboten. Sexuelle Gewalt gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen, aber gerade für die Kirchen ist das eine schwere Last und es bleibt nur eines: Uns als Kirche eindeutig auf die Seite der Opfer stellen.

Was bedeutet das konkret?

Latzel Es gibt seit 2003 ein festes Verfahren, wie mit solchen Fällen umzugehen ist, das schließt ganz klar den Bereich Prävention mit ein. Zurzeit werden alle Mitarbeitenden dazu geschult. Seit dem 1. Januar 2021 muss zudem jeder bei der Einstellung ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen und dies alle fünf Jahre erneut tun. Außerdem gibt es auch eine Meldepflicht bei Verdachtsfällen an eine Meldestelle, die übrigens auch abseits der strafrechtlichen Verjährungsfristen sich dieser Fälle annimmt.

Ist denn – wie bei der Katholischen Kirche – geplant, ein externes Gutachten zu dem Thema in Auftrag zu geben und zu veröffentlichen?

Latzel Die dezentrale Aufstellung der Evangelischen Kirche macht das grundsätzlich etwas schwieriger, es gibt unterschiedliche Zuständigkeiten, viele Betroffene sind bereits verstorben. Die im Juni 2020 einstimmig beschlossene, breit angelegte Aufarbeitungsstudie zu sexualisierter Gewalt in der EKD, die von einem unabhängigen Forscherteam durchgeführt wird, wird hoffentlich mehr Licht ins Dunkle bringen.

Lässt sich sagen, um welche Größenordnung es bei der Evangelischen Kirche gehen könnte?

Latzel Belastbar kann ich keine Zahlen nennen, da es auch darum geht, differenziert zu klären: Wie viele Betroffene sind es, wie viele Beschuldigte? Geht es nur um Pfarrerinnen und Pfarrer oder auch um privatrechtlich Beschäftigte und Ehrenamtliche? Über welchen Zeitraum sprechen wir? Was ich sagen kann, ist, wie viele Disziplinarverfahren die Evangelische Kirche im Rheinland durchgeführt hat: Seit 2011 hat es 17 Verfahren gegeben. In 21 Fällen hat die Unabhängige Kommission Anerkennungsleistungen an Betroffene gezahlt. Das sagt nichts über das Graufeld aus, das gerade untersucht wird. Insgesamt geht die EKD bundesweit von 850 Fällen seit 1950 aus – in allen Berufsfeldern der Evangelischen Kirche.

Wie gehen Sie mit der grundsätzlichen Skepsis der Menschen gegenüber der Institution um?

Latzel Das Verhältnis hat sich tatsächlich verändert: Wir werden nicht mehr automatisch gehört, bloß weil wir als Institution Kirche sprechen. Wir müssen an der Plausibilität, der Überzeugungskraft arbeiten. Wir müssen uns fragen: Was können wir tun, um Menschen in ihrem Glauben zu stärken, wie können wir mit den Menschen in Kontakt treten und bleiben, die nicht mehr sonntags um zehn in den Gottesdienst kommen?

Sie sagen, die Generation der 20- bis 40-Jährigen spielt eine Schlüsselrolle für die Zukunft der Kirche und soll stärker in den Blick genommen werden. Wie denn?

Latzel Ich glaube, wir müssen unsere jungen Christinnen und Christen selbst befragen, zu ihnen kommen: Was ist Ihnen wichtig, in Ihrem Leben, an Ihrem Christsein, und wie können wir als Kirche dazu beitragen? Dann sollten wir diese Kontakte auch pflegen, Ereignisse wie Taufen, Hochzeiten, Trauerfeiern zum Anlass nehmen, immer wieder Angebote zu machen.

Korrespondiert das mit ihrem Bild vom „freien Glauben“, zu dem Sie sich bei der Wahl zum Präses bekannt haben?

Latzel Der Glaube respektiert immer die Freiheit jedes Einzelnen. Es kann viele verschiedene Arten und Weisen geben, den Glauben zu leben. Als Kirche wollen wir die Menschen in ihren persönlichen Lebenswegen stärken.

Was ist noch auf Ihrer Agenda, was ist Ihnen noch wichtig?

Latzel Hoffnung ist ein großes Thema. Klimawandel, Corona-Pandemie, vielfältige Krisen – was gibt uns eigentlich innerlich Halt? Wir wollen Hoffnungsperspektiven geben, nicht nur platten Optimismus verbreiten. Für mich als Christen ist Gott Grund der Hoffnung. Und das hat Folgen für viele Fragen: Wie sieht die Welt nach Corona aus, wie wollen wir leben, was wollen wir ändern – unser Konsumverhalten, unsere Haltung zur Ökologie, unsere Verantwortung für andere?

Das sind Zukunftsfragen, mit denen Sie auch an Ihre bisherigen Tätigkeiten als Direktor der Evangelischen Akademie in Frankfurt und als Leiter des Reformbüros der EKD anschließen.

Latzel Auf jeden Fall, wir leben in einer Zeit tiefgreifenden Wandels, in der wir merken, wir werden nicht so weitermachen können wie bisher. Da wollen wir ansetzen, mitgestalten, dabei niemanden zurücklassen.

Ein Krisenthema ist auch die Debatte um den begleiteten Suizid, wie ist da Ihre Position?

Latzel Es ist gut, dass wir diese Diskussion führen und sensibel wahrnehmen: Was brauchen Menschen am Ende ihres Lebens? Der assistierte Suizid ist nur eine Möglichkeit, die wir als Kirche aber nicht befördern sollten. Es gibt weitere, über die man reden muss – etwa medizinische Begleitung und fürsorgliche Pflege. Die Hospizarbeit hat eine lange, christliche Tradition und unsere Haltung ist: Wir begleiten Menschen beim Sterben, aber nicht zum Sterben.

Niemand ist für Haltung und Verhalten seiner Familienangehörigen verantwortlich. Belastet es Sie dennoch, dass Ihr Bruder Olaf, Pfarrer in Bremen, wegen Volksverhetzung verurteilt wurde? Er hat in einem Eheseminar zum Hass gegen Homosexuelle ausgerufen.

Latzel Also mein Bruder ist mein Bruder, und ich bin ich. Man kann uns deutlich auseinanderhalten, es liegen theologisch Welten zwischen uns. Meine Haltung zum Thema Homosexualität ist klar: Die freie sexuelle Selbstbestimmung gehört zum Glauben.

Hat die Kirche ihre Bedeutung als moralische Instanz jenseits der Gotteshäuser verloren?

Latzel Die Kirche ist keine Moralinstitution, die Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Uns geht es um mehr: Darum, von Gott zu reden, von dem, was uns Hoffnung gibt, wie wir Freiheit leben können – das ist mehr als moralische Werte.

Könnte die allgemeine Sehnsucht nach Orientierung zur Renaissance kirchlichen Lebens führen?

Latzel Renaissance klingt zu sehr nach Rückkehr zu alten Verhältnissen, daran glaube ich nicht. Aber es gibt spürbar den Wunsch nach mehr Orientierung, nach Halt, nach Gemeinschaft. Das sind urchristliche Anliegen, für die wir neue Wege gehen wollen.

Bietet das auch eine neue Chance für die Ökumene?

Latzel Ja. Generell gibt es doch viel mehr, was uns verbindet, als uns trennt. Gemeinsame Anstrengungen sollten weiterverfolgt werden, sei es in der Bildung oder in der Flüchtlingsarbeit. Eine versöhnte Verschiedenheit sollten wir trotzdem behalten. Ich freue mich auf einen guten ökumenischen Austausch im Rheinland.

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