Flötenrock und Hippiegefühl: Ian Anderson geht auf Zeitreise

Luxemburg · Mit den größten Hits der britischen Progressive-Rock-Band Jethro Tull hat deren Gründer Ian Anderson mehr als 1000 begeisterte Zuschauer in der Philharmonie Luxemburg zurück in die 1960er und 70er Jahre katapultiert. Zudem stellte er sein Konzeptalbum Homo Erraticus vor.

Luxemburg. Es ist ein Abend der Zeitreisen, den Ian Anderson und Band in der Philharmonie zele-brieren. Den Auftakt bildet sein 2014 veröffentlichtes siebtes Solo- und Konzeptalbum "Homo Erraticus". Es handelt im Zeitraffer 8000 Jahre britische Geschichte ab. Am Anfang steht der Titel "Doggerland" um eine in der Mittelsteinzeit existierende Landbrücke zwischen Kontinental europa und den britischen Inseln. Am Ende stehen Visionen einer postindustriellen Zukunft.
Zu komplex, zu sperrig


Musikalisch erinnert der Zyklus stark an Jethro Tulls avantgardistische Zeit in den 70ern. Als damals das Album "A Passion Play" - konzipiert um das Thema Wiedergeburt - erschien, befanden Kritiker, nun sei die Band einen Schritt zu weit gegangen. Zu komplex, zu abgehoben schien Jethro Tulls Bemühen, den Begriff "Progressive Rock" mit Inhalt zu füllen.
Sperrig wirkt auch das neue Werk. Die Stilmittel dessen, was damals als progressiv galt, eine Verschmelzung von Rock mit Klassik, Jazz und Folk, sind zwar heute vertraut, werden hier aber überreizt. Zuviel formale Spielerei, zu wenig Seele. Und dem Transport seiner Geschichten rein über Musik traut Anderson offensichtlich auch nicht über den Weg. Deshalb jagen sich im Hintergrund auf Großleinwand hektische Videobilder. Gut, zuweilen sind die Sequenzen witzig, zuweilen erleichtern sie auch das Textverständnis, aber dennoch bleibt ein wenig nahegehender Gesamteindruck.
Das ändert sich schlagartig, als Anderson mit "Bourree", seiner Version des Klassikers von Johann Sebastian Bach, zum Best-of-Teil des Abends ansetzt. Jetzt kommen sie, die kleinen Meisterwerke, überwiegend aus der Zeit zwischen 1969 und 1973, die Mini-Oper "Thick as a Brick", "Nothing is Easy", "Cross-Eyed Mary", "Sweet Dream" oder "Teacher", und das Lebensgefühl dieser Zeit entfaltet sich mit ihnen. Dazu tragen diesmal tatsächlich die Hintergrundbilder bei, authentische Originalaufnahmen aus Woodstock oder von frühen Auftritten Jethro Tulls.
Vor allem aber sind es die Musiker, die überzeugen. Der 67-jährige Anderson geriert sich als Derwisch und Kobold, steht auf einem Bein oder tanzt wild über die Bühne, seiner Querflöte abwechselnd traumschöne wie auch frech hingerotzte Klänge entlockend.
Eine gute Idee ist es, sich im Gesang von Ryan O\'Donnell (33) unterstützen zu lassen. Dessen Stimme klingt wie die des jungen Anderson. Große Klasse ist Florian Opahles rockige E-Gitarre, die alle Nervenfasern vibrieren lässt. Mit John O\'Haras Keyboard in Orgel- und Klaviersound, getragen von Greg Lakes Bass und Scott Hammonds Schlagzeug sorgt sie für ekstatische Passagen. Zu stimmungsvollen, kreativen Krachern werden "My God" und "Aqualung" von 1971. Die Zuschauer fordern lautstark Zugabe. Und da kommt, was kommen muss: "Locomotive Breath". Die letzte Zeile sagt aus, welchen Eindruck man von Ian Anderson mitnimmt: "No way to slow down (keine Möglichkeit, langsamer zu werden)". ae

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