Geschichten aus dem Zettelkasten

Im neuen Roman der bulgarischen Autorin Evelina Jecker Lambreva, die seit 20 Jahren in der Schweiz lebt, zieht eine ältere Dame in eine Mülltonne und bekommt sogleich einen ungewöhnlichen Wohnpartner: ein Baby. Unser Mitarbeiter Rainer Nolden hat den Roman gelesen und einige Schwachstellen gefunden.

Geschichten aus dem Zettelkasten
Foto: (g_kultur

Es beginnt recht interessant, um nicht zu sagen: skurril. Gertrud, eine ältere Frau, die gerade ihren Job verloren hat, sich vergeblich um einen neuen bemüht und ohne Arbeit keinen Sinn in ihrem recht grauen Leben sieht, beschließt, den Rest desselben in einer Mülltonne zu verbringen.
Dies ist selbst für Frauen ohne Aussicht auf Festanstellung ein eher ungewöhnlicher Entschluss, doch genau er führt dazu, dass sie wieder neuen Lebensmut schöpft.
Denn kaum hat sie es sich in der Tonne bequem gemacht, um auf ihre Entsorgung zu warten, bekommt sie Gesellschaft in Gestalt eines Babys, dessen Geschrei zur Entdeckung der beiden führt. Gertrud wird erst einmal in eine geschlossene Anstalt, das Baby auf eine Kinderstation gebracht.
Genau in diesem Moment wendet sich die Geschichte der bulgarischen Autorin Evelina Jecker Lambreva - sie wohnt seit mehr als 20 Jahren in der Schweiz, wo auch diese Erzählung spielt - allerdings erst einmal anderen Figuren zu, und den Leser beschleicht das Gefühl, nicht in einem Roman, sondern in einer Kurzgeschichtensammlung gelandet zu sein.
Es geht um junge Menschen und deren berufliche wie private Gefühlsverwirrungen, die auch teilweise dazu führen, dass deren Leben aus der Spur gerät und sie professionelle Hilfe - sprich: eine Therapie - in Anspruch nehmen müssen.
Erst 80 Seiten später treffen wir Gertrud wieder, die eine wundersame Heilung durchlebt hat, zur Patin des Mülltonnenmädchens wird (sie nennt es Jolanda) und schließlich auch noch eine Niere spenden will, deren Empfängerin, wie das Leben in derlei Geschichten nun mal so spielt, ausgerechnet die Mutter des weggeworfenen Mädchens ist.
Dass die Menschen, denen der Leser in der Zwischenzeit begegnet ist, zu Gertruds Verwandt- und Bekanntschaft gehören, nimmt man eher nur noch beiläufig zur Kenntnis, denn was ihnen widerfährt, hat das Interesse am vielfältigen Geschehen doch arg erlahmen lassen.
Zugegeben: Am Ende gewinnt die Geschichte noch einmal an Fahrt, es gibt eine Geiselnahme und fast so etwas wie ein Happy End - zumindest für Gertrud -, aber alles, was dazwischen geschieht, wirkt wie wahllos aus mehreren Zettelkästen geklaubt; Kästen, in denen die Autorin Ideen für mindestens fünf Romane gesammelt hat.
Dummerweise ist deren Inhalt jedoch irgendwie durcheinandergeraten.
Man kann natürlich mit Fug und Recht behaupten, dass das Leben selbst auch ziemlich chaotisch und unstrukturiert daherkommt. Aber gerade weil das so ist, möchte man in einem Roman doch ein paar Pflöcke eingeschlagen bekommen, die nicht zuletzt auch eine Art Wegweiser von der ersten bis zur letzten Seite sein sollen. Nicht mehr. Aber wenigstens das. Rainer Nolden
Evelina Jecker Lambreva, Nicht mehr, Braumüller Verlag, 277 Seiten, 22 Euro.
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