Geschleiftes Denkmal

Mit der deutschen Erstaufführung einer russischen Revolutionsoper von 1930 öffnete das Saarbrücker Staatstheater seinen Raritäten-Fundus. Überraschende Erkenntnis: Dank zupackender Regie und präzisem Dirigat ist "Eis und Stahl" kein Abend aus der Mottenkiste.

Saarbrücken. Es dürften nicht allzu viele Orte außerhalb von Moskau sein, an denen dieser Tage des 90. Jahrestags der russischen Oktoberrevolution gedacht wird. Vielleicht wollte Saarbrücken nach der geschmäcklerischen, von der einheimischen Prominenz bejubelten Schleiflack-"Traviata" einen Kontrapunkt setzen - und das gelang auch, obwohl man unter den Premierengästen vergeblich nach Oskar Lafontaine Ausschau hielt. Wer bei Wladmimir Deschewows Oper über die Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands gegen die Bolschewiki ideologisches Agitprop-Theater erwartet hat, wird ohnehin angenehm überrascht. Kein Helden-Epos, viel Ironie, Verlierer und Verrohte auf allen Seiten. Wobei das mehr an Immo Karamans Regie gelegen haben könnte als am Komponisten. Karaman spielt mit Verfremdungs- und Lehrstück-Ästhetik, legt derart atemberaubendes Tempo und gutes Timing an den Tag, dass Langeweile gar nicht erst aufkommt. Starke Bilder entstehen aus einem Minimum an Ausstattung (Johann Jörg) und effektvollen Kostümen (Nicola Reichert). Die Bewegungsregie entwickelt mächtig Dampf (Choreographie: Fabian Posca) und nimmt den vorwärtstreibenden Rhythmus der Musik auf.Statue der Heldin wird am Ende geschleift

Im Orchestergraben entfaltet Will Humburg eine gelungene Mischung aus bisweilen geradezu maschinellen Klängen und durchaus melodischen Passagen. Deschewows Partitur entspricht dem musikalischen Zeitgeist, der die 20er Jahre auch in Westeuropa prägte. Sie liegt näher an der illustrativen Musiksprache Alban Bergs als an der "klassischer" russischer Komponisten. Sie hat eine Art raue Kraft, verweigert sich aber platter Emotionalisierung. Kein Wunder, dass sie im Russland der 30er Jahre kaum eine Chance hatte. Es wird engagiert, kraftvoll und erstaunlich präzise gesungen, geschrien, deklamiert. "Eis und Stahl" bietet kein Profilierungsfeld für Individualisten, sondern eine im besten Sinn des Wortes kollektive Leistung, bei der sich Solisten, Chor und Statisterie bemerkenswert homogen zusammenfinden.Welches Fazit bietet sich heute an, angesichts dieser Geschichte über den blutig niedergeschlagenen Aufstand der Kronstädter Matrosen, die zunächst die russische Revolution entscheidend gefördert, dann aber ihre gegen die Partei-Diktatur gerichteten Ansprüche erhoben hatten? Karaman zeigt die skurrile konterrevolutionäre Truppe aus linken Idealisten, karikaturhaften Kapitalisten und reaktionären Militaristen mit dem gleichen Sarkasmus wie die eifrigen Revoluzzer, denen völlig egal ist, dass ihre Botschaften beim Volk nicht ankommen. Absurde Figuren, Marionetten. Die "Heldin" Musja (Anna Toneeva) sprengt sich zwecks Rettung der Revolution am Ende samt dem Hauptquartier der Aufständischen in die Luft, um gleich anschließend zum Denkmal zu mutieren. Aber ihre Statue, Ironie der Geschichte, wird am Ende auch wieder geschleift - ein szenisch grandioses Finale, das beim Publikum spontanen Schluss-Jubel provoziert. Vorstellungen: 1., 16., 30. November. Karten unter Telefon 0681/309 2486.

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