Gute Seiten, schlechte Seiten

Marseille · Seit 1985 hat die Europäische Union mehr als 40 Städten der Gemeinschaft den Titel Kulturhauptstadt verliehen. Für das kommende Jahr sind Marseille (Frankreich) und Kosice (Slowakei) auserkoren.

Marseille. Europas Kulturhauptstädte sind meist paarweise gruppiert: eine große und eine kleine; eine im früheren "Ostblock", eine im Westen; eine leuchtende, florierende und eine eher schmuddelige, erst aufbrechende. Bei Tallinn und Turku war das 2011 so, bei Istanbul und Essen/Ruhrgebiet 2010, bei Luxemburg und Sibiu 2007. Natürlich, jede Großstadt hat immer auch ihre Schattenseiten - aber bei der Auswahl 2013 sind diese wohl augenfälliger denn je: Marseille, die Millionenmetropole der Provence, ist auch eine Hauptstadt der Ausländerproblematik und des Verbrechens. Und Kosice, die ostslowakische Industriestadt an der äußersten Grenze der EU, trägt mit dem Roma-Ghetto Lunik IX einen sozialen Fleck, den auch das Jubiläumsjahr nicht überdecken kann. Kriterien für die Auswahl der Kulturhauptstadt sind die europäische Dimension der Bewerbung sowie die Beteiligung der Bevölkerung an Kulturangeboten.
Marseille hat sich gemacht. Jahrzehntelang ließen Provence-Touristen die älteste Stadt Frankreichs links oder rechts liegen. Doch die Kulturhauptstadt 2013 hat erfolgreich an einem Image als Stadt mit Charme gearbeitet. Seit einigen Jahren erlebt sie einen Tourismusboom. Stadtvillen in bester Lage wurden zu Hotels ausgebaut oder aufwendig renoviert. Ehrgeizige Prestigeprojekte werten die Stadteinfahrt künftig an der Seeseite auf.
Die Docks, die verkommene Speicherstadt am Hochseehafen, werden unter dem Titel "Euromediterranee" großflächig abgerissen oder umgebaut. Neue Verkehrswege, Parks, Schulen, Freizeitanlagen: für Jahrzehnte die wohl größte Baustelle für Stadterneuerung im Süden Europas. Ein topmodernes, nicht unumstrittenes Europamuseum ist entstanden, das die Geschichte des Kontinents aus der Perspektive des Mittelmeerraums in den Blick nimmt.
Marseille, schon vor rund 2600 Jahren von Griechen gegründet, gestaltet in großem Stil die Zukunft - und ist doch irgendwie immer gemächlich geblieben. Allenthalben ist zu spüren, dass hier 111 Dörfer zu einer Metropole von 240 Quadratkilometern und rund 850 000 Einwohnern (plus 500 000 im Großraum) zusammengewachsen sind zur Hauptstadt der Niedrigtemperatur-Fischsuppe, der Bouillabaisse. "Vormittags sind wir langsam - und nachmittags sind wir dann nicht so schnell." Das dürfen die Marseillais allerdings nur über sich selbst sagen; anderen würden sie es übelnehmen.
Im Duo mit Kosice , über Jahrhunderte eine slawisch-deutsche Stadt im Königreich Ungarn, gibt die Provenzalische die Rolle des Schwans. Doch auch das vermeintlich hässliche Entlein nahe der Grenze zur Ukraine mausert sich. Der Hauptplatz (Hlavne namestie) zwischen Staatstheater und dem gotischen Elisabeth-Dom strahlt als Prachtboulevard fast wieder in habsburgischem Glanz. Zum Kulturhauptstadtjahr wurde ein baufälliges Hallenbad zu einem Kunst- und Veranstaltungskomplex umgestaltet.
Mit 240 000 Einwohnern ist Kosice (sprich: Koschize), deutsch Kaschau, immerhin die zweitgrößte Stadt der Slowakei. Dennoch ist die Metropole am Flüsschen Hornad mit der multikulturellen Geschichte hierzulande fast unbekannt. Trotz hoher Arbeitslosigkeit hat die Stadt mit dem Stahlwerk von "US Steel" einen Standortvorteil gegenüber anderen Städten in der Region: den größten Arbeitgeber weit und breit. Die drei Universitäten ziehen Jugend, Know-How und damit mögliches Zukunftskapital an.
Internationale Chöre und Orchester haben sich angesagt, lokale Künstler stehen in den Startlöchern, um sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Für internationalen Glamour wird einer verpflichtet, der nie in Kosice war: Andy Warhol (1928-1987). Der Meister der Pop-Art wurde in den USA geboren und starb auch dort. Doch eigentlich hieß er Andreij Warhola, und seine Vorfahren stammten aus einem Bauerndorf in den naheliegenden Karpaten. Fast ein Sohn der Stadt also.
Ob der Schwung, eine europäische Hauptstadt zu sein, über das Jubeljahr hinausreichen wird, muss sich weisen. Optimismus, Energie und Kreativität scheinen vorhanden, das Stadtbild der real existierenden Segnungen des Sozialismus zu verwandeln: Musik statt Platte, Kunst statt Kunststoff.

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