"Ich will niemanden mehr sehen"

Berlin · Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist in der Nacht zum Dienstag nach langer, schwerer Krankheit in Berlin gestorben. Der Autor von "Tschick" und "Sand", vor fünf Jahren in Bitburg mit dem Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals ausgezeichnet, wurde nur 48 Jahre alt.

 Schriftsteller Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013). Beim Eifel-Literatur-Festival erhielt er 2008 in Bitburg den Förderpreis. TV-Foto: Archiv/Fritz-Peter Linden

Schriftsteller Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013). Beim Eifel-Literatur-Festival erhielt er 2008 in Bitburg den Förderpreis. TV-Foto: Archiv/Fritz-Peter Linden

Berlin. Traurige Nachrichten werden nicht erträglicher, nur weil sie sich seit langem abgezeichnet haben. Und dies ist eine besonders traurige: Wolfgang Herrndorf, einer der sprachstärksten und zugleich gewitztesten Autoren unserer Zeit, ist in der Nacht zum Dienstag nach langer Krankheit gestorben, wie der Rowohlt-Verlag gestern mitteilte. Er wurde nur 48 Jahre alt.
Laut einer Twitter-Mitteilung seiner Kollegin und Freundin Kathrin Passig nahm er sich das Leben. Herrndorf, im Juni 1965 in Hamburg geboren, studierte in Nürnberg Malerei, zeichnete unter anderem für das Satiremagazin Titanic, illustrierte Buchumschläge (darunter die "Hagener Trilogie" von Frank Schulz) - und verlegte sich dann ganz aufs Schreiben. Sein erster Roman "In Plüschgewittern" (2002) wurde oft gerühmt und selten gekauft, ähnlich verhielt es sich mit seinem Erzählband "Diesseits des van-Allen-Gürtels" (2007), für den er im Jahr darauf auch den Preis beim Eifel-Literatur-Festival erhielt.
Bei der Verleihung in Bitburg - Herrndorf freute sich nicht nur über die Auszeichnung, sondern auch über das dringend benötigte Preisgeld in Höhe von 3000 Euro - scherzte er: Er arbeite gerade an einem Krimi - "weil ich jetzt einen Bestseller schreiben muss".
Diesen Bestseller landete er im Jahr 2010 dann wirklich, auch wenn es kein Krimi war: "Tschick", die wunderschöne Geschichte zweier jugendlicher Außenseiter, die in einem geklauten Lada in die Walachei - und ins große Abenteuer starten. Mittlerweile sind mehr als eine Million Exemplare des Buchs verkauft. Herrndorf erhielt eine Reihe von Auszeichnungen, bei weitem nicht nur in der Eifel: darunter den Deutschen Erzählerpreis, den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, den Deutschen Jugendliteratur-Preis oder den Preis der Leipziger Buchmesse.
Niederschmetternde Diagnose


Mitten in den unerwarteten Triumph mit "Tschick", welch grausame Ironie, kam die erschütternde Diagnose: Herrndorf war an einem Glioblastom, einem unheilbaren Gehirntumor, erkrankt. Er berichtete darüber so offen wie vernichtend traurig in seinem Internet-Blog "Arbeit und Struktur", der sich von Monat zu Monat verdüsterte. Als die Filmrechte verhandelt wurden, schrieb er im Frühjahr 2011: "25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre."
Dass er trotz dieser aussichtslosen Lage noch imstande war, vor zwei Jahren einen so starken Roman wie den irrwitzigen Wüstenthriller "Sand" abzuliefern, ist ein Wunder.
Herrndorfs Blog soll in Kürze als Buch veröffentlicht werden, was aus einem weiteren Manuskript wird, an dem er zuletzt schrieb, war gestern nicht zu erfahren.
Die Zeit der Wunder ist vorbei, das letzte Wort hat Herrndorf - mit dem Blog-Eintrag vom 7. Juli dieses Jahres: "Ich sitze allein an einem Tisch. Die Sprache seit Tagen kaputt. Ab und zu kommen einzelne und sprechen mit dem Stammelnden … Es ist ein schönes Gespräch, sagen alle, man merkt überhaupt nichts, ich rede wie gewohnt, so schön, mich zu sehen, und ich will das nicht hören, ich kann nicht mal das Wort finden, das meinen Zustand beschreibt. Ich bin nicht der Mann, der ich einmal war. Meine Freunde reden mit einem Zombie, es kränkt mich, ich bin traurig, ich will weg. Ich will niemanden mehr sehen."

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