Im Strom des Erzählens

Ein Mann, ein Fluss, eine Region: Auch Norbert Scheuers neuer Roman "Überm Rauschen" spielt in der Eifel - und an der Kyll. Der TV traf den Schriftsteller zum ausufernden Gespräch am Gestade.

 Ortstermin an der Kyll: Der Schriftsteller Norbert Scheuer. TV-Foto: Fritz-Peter Linden

Ortstermin an der Kyll: Der Schriftsteller Norbert Scheuer. TV-Foto: Fritz-Peter Linden

 Foto: Fritz-Peter Linden

Foto: Fritz-Peter Linden

Kall/Stadtkyll. Ein Mann geht ins Wasser: "Ich will da jetzt hin!", sagt Norbert Scheuer. Er hat einen Stein entdeckt, der gefährlich weit vom Ufer entfernt aus der Kyll ragt. Und genau dieser Stein muss es sein für das geplante Bild vom Autor und vom Fluss. "Lassen Sie's, Sie fliegen garantiert rein!" - "Macht doch nichts", ruft er zurück, balanciert lachend hinüber - und wir haben ein schönes Foto.

"Vielleicht ist es der Fluss, der mir alles wieder erzählt, mich erinnert" (alle Zitate aus "Überm Rauschen", C.H. Beck, 165 Seiten, 17,90 Euro).

Wir hätten auch zur Urft fahren können. Die fließt an Kall-Keldenich vorbei, wo Scheuer lebt, sie wird im Roman auch genannt, stattdessen aber haben wir uns zur Siedlung Hammerhütte bei Stadtkyll aufgemacht und spazieren zum Kyllufer. Denn wenn in seinen Büchern von einem Fluss die Rede sei, "dann denke ich immer an die Kyll". Auch biografisch passt der Ortstermin: Scheuer, 1951 in Prüm geboren, hat als Kind mit seinen Eltern eine Zeit lang im nahen Stadtkyll gewohnt.

"Ich stehe angelnd im Fluss, rieche wie früher in der Kindheit das Wasser, Dinge, die der Fluss mit sich trägt, als wäre er eine alte Jacke, deren Taschen vollgestopft sind."

Scheuers Bücher spielen alle in der Eifel. In der Provinz. Kurz sind sie - und fangen doch ganze Welten ein. Andere Autoren lassen für weit weniger Wirkung erheblich mehr Bäume töten. Auch "Überm Rauschen" ist ein Eifelbuch. Und dennoch kein Heimatroman. Die Hauptfiguren sind passionierte Petrijünger, aber ein Angelbuch ist es ebenfalls nicht, obwohl man doch sehr viel darüber erfährt.

Ein Todesfall kommt vor, die Polizei ermittelt, trotzdem ist das Buch kein Krimi. Die Geschichte der Eifel spielt eine Rolle, aber das macht "Überm Rauschen" noch lange nicht zum Historienroman. "Mein Konzept war, eine imaginäre Geschichte der Eifel zu schreiben - und in die Geschichte dieser Familie einzuweben", sagt Scheuer. Deshalb komme auch die ganze Region darin vor: Kyllburg, Kall, die Birresborner Eishöhlen, die Kalvarienberg-Explosion in Prüm - alles drin, allerdings auf einen Ort konzentriert.

"Diese Landschaft, die kleinen Städtchen und Dörfer gibt es nicht wirklich", hat er einmal geschrieben. "Sie sind Orte in der Kartographie einer inneren Welt." In dieser Welt hat er sich eingerichtet, entdeckt sie immer wieder neu und beweist, dass großartige Literatur auch von kleinen Orten und kleinen Leuten handeln kann. Und er ist damit ja nicht der Erste: Schnell sind wir bei Sherwood Anderson, auf dessen "Winesburg, Ohio" er in seinem vorigen Buch "Kall, Eifel" nicht nur im Titel anspielte.

Und bei William Faulkner, einem seiner Lieblingsautoren, der seine Geschichten im fiktiven, aber ebenfalls provinziellen "Yoknapatawpha County" ansiedelte. "Irgendwann habe ich Faulkner gelesen und gedacht: Der macht das ja genauso! Das war der Ausgangspunkt - da habe ich mir gesagt: Jetzt schreibst du über die Gegend, in der du lebst. Mich wundert eigentlich, dass das nicht jeder macht."

"Als der Nebel sich auflöste und die Sonne auf dem Wasser schimmerte, sahen wir unzählige Ringe steigender Forellen. Die aufgehende Sonne glitzerte auf dem Wasser, in den Uferbäumen hingen Spinnennetze mit Tautropfen."

"Wieso haben eigentlich die Amerikaner damit keine Probleme?" Gute Frage. Vielleicht ändert sich das ja auch hierzulande bald: Scheuers neuer Roman ist in der FAZ vorabgedruckt, der "Spiegel" machte ihn soeben zu einem der "Bücher der Woche" (taufte dabei aber den Autor in "Scheurer" um). Und sein Verlag hat Scheuer für den Deutschen Buchpreis vorgeschlagen. Viel Ehre, die sich endlich in den Verkaufszahlen widerspiegeln sollte, die der Schriftsteller längst verdient hat. Zumal Scheuers Bücher, auch wenn "Literatur" drübersteht, genauso zugänglich sind wie ihr Autor. Was natürlich vor allem an Scheuers Sprache liegt. Wie er, zum Beispiel, die Atmosphäre am Fluss beschwört, den Strom der Erinnerungen fließen lässt und dabei wunderbar poetische Bilder findet, das reißt den Leser unwiderstehlich mit:

"Abends lagen wir im Bett, glaubten, dieses Rauschen übertöne alles, und wir trieben wie leblos, mit ausgebreiteten Armen, langsam auf das rauschende Wehr zu, nur ein unendlicher Sternenhimmel über uns."

Auch in seiner Heimat haben sich noch nicht allzu viele von Scheuers Erzählkunst mitreißen lassen. Reaktionen gebe es jedenfalls nur selten: "Komischerweise schreiben mir aber sehr viele Eifeler, die nicht mehr hier wohnen", berichtet er. Andererseits sei das aber auch gar nicht so schlimm: So könne er auch weiterhin ungestört einen Kaffee trinken gehen. Das tut er am liebsten an einem der unpoetischsten Orte, die man sich vorstellen kann: im "Toom"-Markt von Kall. Vielleicht ja doch irgendwann ein Krimi, der Auflage wegen?

"Ich kann das gar nicht", sagt er. "Wer, wie ich, ,normale' Romane schreibt, der zeichnet nur. Wer Krimis schreibt, der konstruiert nebenbei noch. Das ist also eigentlich anspruchsvoller", findet er und bekundet seinen Respekt vor den Kollegen aus der Region, Jacques Berndorf und Ralf Kramp. "Die machen das gut", sagt Scheuer. Scheuer macht unterdessen weiter mit dem, was er so gut kann: Es gebe viele Figuren aus seinen Büchern, mit denen er sich noch näher befassen wolle - und neue Geschichten. "Ich hatte gedacht, irgendwann gäbe es nichts mehr zu erzählen. Aber je mehr ich schreibe, desto mehr fällt mir ein."

"Wie viel Wasser mag in dieser Zeit den Fluss hinuntergeflossen sein, vielleicht genug, um ein Meer zu füllen, wie viele Dinge sind in dieser Zeit geschehen, bestimmt genug für ein ganzes Universum von Geschichten."

Das Rauschen - oder, wie es im Buch heißt, "der" Rauschen - das ist das Mühlenwehr unterhalb des Gasthofs, in dem Norbert Scheuers Ich-Erzähler Leo gemeinsam mit seinem älteren Bruder Hermann und den jüngeren Schwestern aufgewachsen ist, bevor er sein Heimatdorf verließ. Jetzt kehrt Leo zurück -auf der Suche nach der Vergangenheit und der Antwort auf die Frage, was mit Hermann geschehen ist, der offenbar den Verstand verloren hat.

Scheuer erzählt, präzise und poetisch, von Familie und Liebe, von Enttäuschung und Glück - und immer wieder vom Fluss, in dem die Brüder und ihr Vater früher zum Angeln gingen, auf der Suche nach den besten Fanggründen und dem geheimnisvollen "Urfisch", der wie jener legendäre weiße Wal immer wieder auftaucht und doch nicht zu fassen ist.

Norbert Scheuer: "Überm Rauschen" (Roman, C. H. Beck, 165 Seiten, 17,90 Euro)

Norbert Scheuer wurde 1951 in Prüm geboren. Scheuer, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern, lebt in Kall-Keldenich, bei der Deutschen Telekom arbeitet er als Systemprogrammierer. Nach dem Erzählband "Der Hahnenkönig" und der Gedichtesammlung "Ein Echo von allem" erschien Scheuers erster Roman "Der Steinesammler" 1999. Bei C.H. Beck veröffentlichte er "Flussabwärts", "Kall, Eifel" und "Überm Rauschen". Scheuer wurde ausgezeichnet mit dem Eifel-Literaturpreis, dem Martha-Saalfeld-Förderpreis und dem Glaser-Preis. Beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt erhielt er 2006 den 3sat-Preis.

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