Interview mit Christian Baron „In Trier habe ich die Frau meines Lebens kennengelernt“

Ein Gespräch mit dem Autor über die Hintergründe zu seinem Roman „Ein Mann seiner Klasse“ und was sein eigener Lebenslauf damit zu tun hat.

 Christian Baron.

Christian Baron.

Foto: Hans Scherhaufer

Ein Buch, das nach dem Lesen Fragen aufwirft. Im Interview mit dem Trierischen Volksfreund verrät Christian Baron, was nicht im Roman steht. Unter anderem spricht er darüber, warum seinen Geschwistern der Aufstieg nicht gelang.

„Ein Mann seiner Klasse“ gibt keine Antwort auf die Frage „Wer war schuld an all dem Elend?“ Warum diese Zurückhaltung?

BARON Mir ist es wichtig, einen literarischen Text nicht mit politischen Botschaften zu belasten. Das tat der Literatur noch nie gut. Meine Erzählung lebt bewusst von vielen Leerstellen, vor allem in der Erklärung. Der Ich-Erzähler hadert ja selbst mit seiner Deutung. Das weist darauf hin, dass er mit der ganzen Sache noch lang nicht abgeschlossen, geschweige seinen Frieden gefunden hat.

Es ist ja kein Naturgesetz, dass ein „Working Poor“, wie mein Vater es war, sich in Alkohol und Gewalt flüchtet. Er war eindeutig krank und hätte sich helfen lassen müssen. Aber das geschah nicht. Dieser extreme Fall zeigt, was passiert, wenn eine Gesellschaft wegsieht oder den Armen selber die Schuld an ihrer Lage zuschiebt.

Daher ist die Schuldfrage schwer zu beantworten. Weder war mein Vater nur Opfer der Verhältnisse, noch haben die Verhältnisse nichts mit seiner Frustration und Gewalt zu tun. In Zeiten, in denen soziale Milieus auseinanderdriften, braucht es wieder mehr Empathie, mehr Verständnis füreinander. In dieser Hinsicht ist nichts so wertvoll wie die Literatur.

Sie haben den sozialen Aufstieg geschafft, Ihre Geschwister nicht. Woran lag es?

BARON In der Pubertät schlagen Kinder über die Stränge; das ist in dem Alter normal. Im behüteten bürgerlichen Umfeld werden solche Fehltritte meist aufgefangen. Aber uns fehlte dieses Netz.

In meiner Familie kam hinzu: Mein Vater hat immer gearbeitet, aber nie genug Geld verdient, um uns durchzubringen. Wer das von klein auf erlebt, entwickelt das Bewusstsein, dass Fleiß und Leistung nichts bringen. Abgesehen von den Traumata, die in mir und meinen Geschwistern stecken. Armut und Gewalt haben uns negativ geprägt. Wenn es da keine Sozialarbeiter oder Lehrer gibt, die ihre Ermessensspielräume bis an die Grenze des Legalen ausreizen, hat man keine Chance.

Bei mir gab es diese Unterstützer: Lehrerinnen und Lehrer, aber auch beeindruckende Menschen wie meine Tante Ella. Sie überzeugten mich, dass Bildung der Schlüssel zu einem guten, selbstbestimmten Leben sein kann. Meinen Geschwistern fehlten solche Förderer. Deshalb haben sie die Schule viel zu früh verlassen.

Wie hat sich Ihr gesellschaftlicher Aufstieg auf das Verhältnis zu Ihren Geschwistern ausgewirkt?

BARON Das Verhältnis verschlechterte sich. Als ich für die Zwischenprüfung meines Studiums lernte, brach mein Bruder seine Ausbildung ab. Ich begriff nicht, wie man eine solche Chance wegwerfen kann. Aber er hatte außer seinem vorlauten kleinen Bruder ja auch niemanden, der als Autorität auf ihn hätte einwirken können. Ich hingegen hatte an der Uni Freunde und Dozenten, die mir halfen. Dies war ein Privileg, das er nicht hatte.

Ähnlich war es bei meiner älteren Schwester. Als sie mit 19 schwanger wurde, war ich mitten im Studium und von meiner Familie weiter entfernt, als es die 100 Kilometer zwischen Kaiserslautern und Trier vermuten ließen. Auch bei ihr hatte ich die Gedanken, die man als Studierter so hat: „Warum verbaust du dir alles? Warum wirst du ohne abgeschlossene Ausbildung so jung Mutter?“ Meine Schwester tat meine Fragen als arrogant ab.

Inzwischen finde ich, dass sie recht hat. Als Student hatte ich gut reden; mir fiel die Anerkennung durch meinen Ausbildungserfolg nur so zu. Meine Schwestern aber mussten sie sich auf anderem Weg holen. Da wir einen gewalttätigen Vater und eine depressive Mutter hatten, war ihr Antrieb schon früh klar: „Ich will eine bessere Mutter sein, als ich es selbst erlebt habe.“ Das war der wichtigste Grund, warum beide so früh Mütter wurden.

Wie ist heute das Verhältnis zu Ihren Geschwistern?

BARON Jahrelang hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mehr Glück hatte als sie. Ihr Neid hat mich verletzt, aber nie entmutigt. Ich weiß nämlich auch, dass ich ohne Ehrgeiz und Fleiß keine Chance gehabt hätte, von irgendwelchen „Gatekeepern“, also Aufstiegshelfern, entdeckt zu werden. Außerdem ist meine Definition von „beruflich erfolgreich“ heute eine andere. Mein Bruder macht grad den Autoführerschein und findet schrittweise den Weg in den Gartenbau, während meine Schwestern in ihrer Mutterrolle aufblühen. Ja, mein Beruf als Journalist ist gesellschaftlich angesehener, doch warum sollte meine Arbeit wertvoller sein als ihre? Letztlich ist es doch nur eine Frage von Stolz und Vorurteil.

Wie betrachten Ihre Geschwister ihr Leben?

BARON Sie steckten in den vergangenen Jahren im Niedriglohnsektor fest und haben alle mit der Jobcenter-Bürokratie zu tun, die den Leuten Daumenschrauben aufsetzt, statt ihnen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Sie bekommen lebensnah mit, dass es politischer Wille ist, Menschen kleinzuhalten.

Die kapitalistische Ideologie wirkt leider auch in ihnen. Sie schieben die Verantwortung allein auf ihre falschen Entscheidungen in der Jugendzeit und resignieren politisch, was genauso falsch ist wie die Neigung mancher Linker, die Schuld für individuelle Probleme ausschließlich im System zu suchen. Der Kapitalismus macht es Menschen wie meinen Geschwistern und mir schwer, sozial aufsteigen – aber es gibt hier und da Schlupflöcher.

Sie haben zwischen 2006 und 2011 in Trier gelebt. Was verbinden Sie mit der Stadt?

BARON Die schönste Zeit meines Lebens: lange Nächte im Simplicissimus und Cubiculum, den schlimmsten Liebeskummer aller Zeiten, ein lockeres Studium dank dem Gerade-noch-so-im-Magister-sein-Dürfen, die aufregende Zeit als Journalist bei den Online-Magazinen 16vor und hunderttausend.de, die tiefsten Freundschaften überhaupt, Lesekreise mit Stecker-ziehenden Büchern, die härtesten Fußballturniere, die schönsten Weinfeste, die nervigsten linken Aktivisten, das Gegurke der Eintracht – und am Ende meiner Trierer Zeit habe ich die Frau meines Lebens kennengelernt.

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