Open Air So wunderschön kaputt: Ton Steine Scherben und mehr in Saarburg

Saarburg · Open Air in Saarburg: Warum Ton Steine Scherben heute noch aktuell sind.

 Tolle Atmosphäre und auch nach 50 Jahren noch aktuell: Ton Steine Scherben mit Funky Götzner, Gymmick und Kai Sichtemann (v.l.).

Tolle Atmosphäre und auch nach 50 Jahren noch aktuell: Ton Steine Scherben mit Funky Götzner, Gymmick und Kai Sichtemann (v.l.).

Foto: Dirk Tenbrock

Tiefe, schwarze Nacht, eine farbig beleuchtete Bühne mit einer Kult-Band und über 200 enthusiastische Fans auf dem alten Schießstand der Saarburger Kaserne, mehr braucht es nicht, um ein Gefühl zu erzeugen, das an alte Zeiten erinnert. An alte Konzert-Zeiten, vor der Corona-Pandemie, aber auch – und vor allem – an die politisch aufgeheizte Zeit um 1970 in West-Berlin, als sich die wohl politisch einflussreichste deutschsprachige Band um den 1996 mit nur 46 Jahren gestorbenen Rio Reiser gründete: Ton Steine Scherben. Das ist eine Verballhornung des Namens der damals westdeutschen Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden und zeigt dadurch gleichzeitig eine politische Richtung an, die Sozialkritik, ja Klassenkampf mit ehrlicher Rockmusik verbindet. Und diesem Prinzip sind die verbliebenen (und die neu hinzugekommenen) Scherben auch nach 50 Jahren noch treu geblieben. Funky K. Götzner (Drums) und Kai Sichtermann (Bass) sind von der Originalbesetzung dabei, dazugeholt haben sie sich den kongenialen Nürnberger Liedermacher Gymmick, der mit der Akustikgitarre, Keyboards und seiner Stimme den Part von Rio Reiser übernimmt. Eine umwerfende Illusion und Interpretation, fernab der Imitation. Als Support überzeugt Ana Onyx aus Berlin, die die „Freunde des radikalen Songwritings“ begrüßt und in Stimmung bringt. Als wäre das nötig, die über 200 Zuschauer (unter strikter Einhaltung des Hygienekonzeptes) sind teilweise von weither angereist und sowieso schon wie elektrisiert. Viele Veteranen der Zeit, die bei „Rote Front“ („Die letzte Schlacht gewinnen wir“) die Fäuste ballen, aber auch viele jüngere Menschen, die im Jahr 1970 noch nicht einmal geboren waren, sich aber dennoch mit den leider immer noch aktuellen Botschaften der Scherben identifizieren können. Diese Botschaften sind nicht nur politisch, kapitalismuskritisch und von der damaligen Kreuzberger Hausbesetzer-Szene inspiriert, sondern handeln auch von  der Illusion der (freien) Liebe („Lass uns‘n Wunder sein“, „Halt dich an deiner Liebe fest“ oder „Junimond“). Politische Liebeslieder sind das, manchmal auch liebevolle Politsongs. Die linke Radikalität der Ansichten ist geblieben und mancher fragt sich, was in 50 Jahren des Kampfes eigentlich erreicht wurde. Auch heute noch sind Gentrifizierung („Rauch-Haus-Song“) und Turbo-Kapitalismus („Der Turm stürzt ein“) aktuelle Probleme. Sogenannte alternative Fakten werden heutzutage von den Trumps oder Erdogans verbreitet („Alles Lüge“). Das ist keine Sozialromantik sondern verstörend. Die Leute singen und tanzen, johlen und pfeifen gegen den Zeitgeist an, das Bier fließt am Getränkestand (mit Abstand!). Kai und Funky laufen im Rentenalter noch zu hoher Form auf und dem Franken Gymmick nimmt man den Berliner Rio vollumfänglich ab. Wenn als Zugabe „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ und „Keine Macht für Niemand“ ertönt, dann macht sich die Erkenntnis breit, dass sie die Welt zwar nicht verändern, aber das Bewusstsein erhalten und stärken konnten, der Funke glimmt noch!

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