Katzensprung in die eigene Vergangenheit

Luxemburg · Rekonstruktion als Kunstwerk: Darauf hat sich der Schweizer Massimo Furlan spezialisiert. In Luxemburg zeigte er nun sein Kult-Werk "1973", der nachgespielte Grand Prix Eurovision, an historischer Stätte im Grand Théâtre, wo einst die Original-Veranstaltung stattfand.

 Massimo Furlan in der Rolle des belgischen Grand-Prix-Teilnehmers Hugo. Foto: Grand Théâtre

Massimo Furlan in der Rolle des belgischen Grand-Prix-Teilnehmers Hugo. Foto: Grand Théâtre

Luxemburg. Ja, ich bekenne: Ich saß auch vor dem Fernseher, damals, vor 39 Jahren. Und drückte mir die Daumen wund für den spanischen Titel, eine - aus heutiger Sicht betrachtet - arge Schnulze namens "Eres tu", die am Ende auf Platz 2 landete.
Dass die Sendung seinerzeit aus Luxemburg kam, also quasi direkt um die Ecke, war mir nicht bewusst. Aber ich liebte diesen Wettbewerb von 17 Nationen, jeder Beitrag in Landessprache, oft mit folkloristischem Einschlag, von eifrigen Interpreten mit großem Sinfonie-Orchester dargebracht, ohne Show-Spektakel, keine austauschbare Pop-Ware. Massimo Furlan holt diese Ära zurück, in einer ebenso ironischen wie liebevollen Rekonstruktion dieses Abends im April 1973.
Eine doppelbödige Handlung: Furlan spielt die fiktive Figur des Pino Tozzi, der wiederum, unterstützt von einigen Darsteller-Kollegen, die Sänger doubelt.
Die damalige Fernseh-Übertragung samt Kommentar wird als running gag einbezogen, es wirkt zunächst wie eine reine Travestie. Aber in die turbulente Comedy mischen sich zunehmend allerlei improvisierte philosophische Debatten, um die Funktionsweise des Schlagers, um das Wesen der Erinnerung, aber auch um die Frage, warum man Dinge, die man in seiner Jugend geliebt hat, später oft nur noch als Parodie erträgt.
Tatsächlich: Die Musik in ihrer naiven Ehrlichkeit, die originalgetreuen (und damit um so absurder wirkenden) grellen Kostüme, das akribisch nachgespielte Bewegungsrepertoire: Alles wirkt wie ein Panoptikum, ein Blick in eine längst untergegangene Welt. Das soll uns damals gefallen haben? Mein Gott, wie peinlich.
Als Furlan den späteren Siegertitel singt, "Tu te reconnaitras" von Anne Marie David, läuft eine junge Frau an ihm vorbei, bleibt kurz irritiert stehen und verschwindet dann im Hintergrund. Am Ende, wenn der Siegertitel traditionell wiederholt wird, taucht sie wieder auf und greift zum Mikrophon: Anne Marie David selbst, nach vier Jahrzehnten (!) optisch und stimmlich kaum gealtert, kommt an die Stätte ihres historischen Triumphes zurück und setzt den vom Publikum bejubelten Schluss-Akzent. Ein echter Coup de théâtre, ein Moment der Rührung, aber auch der Erkenntnis: 1973, das ist keine andere Welt, sondern gerade mal ein Katzensprung in die eigene Vergangenheit. Vielleicht ist es genau das, was Furlan uns sagen will.

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