Kein Entrinnen vor dem Tod

TRIER. Zu einem außergewöhnlichen Triumph beim Trierer Publikum geriet die Premiere der Ballettproduktion "Requiem!!" nach der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart in der Choreographie von Birgit Scherzer.

Hohe, hermetisch abschließende Wände von graustichigem Weiß, die sich Richtung Bühnenhintergrund zu einem kleinen Tor verjüngen. Eine Rutschbahn, über die Menschen auf die Bühne schlittern, ohne Weg zurück. Heraus geht es nur durch anonyme Drehtüren, von denen niemand weiß, was dahinter liegt. Einen einzigen Ruhepunkt gibt es in diesem Gefängnis, das man Leben nennt: Einen Lehnstuhl, der es erlaubt, vom Getriebenen zum Beobachter des ewigen Kommens und Gehens zu werden. Aber der Stuhl hängt fünf Meter über Bodenhöhe, mit menschlichen Kräften unerreichbar, selbst wenn man, wie die Tänzer, buchstäblich die Wände hochgeht. Birgit Scherzer erzählt Mozarts Requiem als facettenreiche, irritierende, fesselnde Auseinandersetzung mit der Unentrinnbarkeit des Todes. Man kann vor ihm flüchten, mit ihm kämpfen, ihn umgarnen oder zu überlisten versuchen: Dieser emotionslose, unerbittliche Schnitter senst am Ende eben doch alle weg. Und manchmal, auch das klingt an, kann er sogar ein Erlöser sein. Das hört sich an, als sei Scherzers Choreographie mit simpler Gebrauchsanweisung zu verstehen. Ist sie aber nicht. Die Choreographin und ihre Ausstatterin Brigitte Benner arbeiten mit vielfältiger filigraner Symbolik, die sich einfacher Interpretation entzieht und reichlich Raum lässt für die Fantasie des Betrachters. Seile, die von der Decke hängen, Schuh-Berge, Regenschirme: Die Accessoires laden zu Gedankenflügen ein. Wer stirbt schon in seinen Schuhen? Sind die schwarzen Treter also Symbol für den Kampf ums Weiterleben? Scherzer wirft Fragen in den Raum, aber beantwortet sie nicht. Und das ist auch der Schlüssel, warum sie nicht scheitert an der unlösbaren Aufgabe, Mozarts phänomenale Totenmesse mit einer anderen Kunstform zu koppeln. Jeder Versuch, die umwerfende Wucht des Werks mit einer eindimensional getanzten Nacherzählung von Mozarts Leben zu verbinden, hätte zwangsläufig in einem Debakel geendet. Aber das Tanzstück "Requiem!!" geht außerordentlich respektvoll mit Mozart um, gerade weil es nicht einfach die Musik in Bewegungen umsetzt. Manchmal hat man sogar das Gefühl, Scherzer würde bei der Bewegungs-Choreographie bewusst den Kontrast mit dem Tempo und der Getragenheit der Musik suchen.Blick ins Programmheft ist empfehlenswert

Die von Matthias Kaiser besorgte Neueinrichtung der Reihenfolge der einzelnen Abschnitte ist durchdacht und nachvollziehbar. Mozart ist über dem Requiem gestorben, und die Umstellung versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass ein Teil des Stücks nicht von ihm, sondern von seinem Schüler Süßmayr komponiert wurde. Die klug gewählte Requiem-Aufnahme von Christopher Hogwood bringt Mozarts todernste Musik entkleidet von Schwulst und Pathos zu Gehör. Das vorzügliche Programmheft bietet Orientierungs- und Interpretationshilfe für Zuschauer, die nicht nur hören und sehen wollen, sondern auch verstehen. Allerdings, und das erklärt vielleicht auch den weltweiten Erfolg der Produktion, braucht man die intellektuelle Ebene nicht zwangsläufig, um die Faszination von "Requiem!!" aufzunehmen. Man kann sich auch einfach nur zurücklehnen und die Bilder von bizarrer Schönheit auf sich wirken lassen, die ausdrucksstarken Bewegungen jenseits aller Stereotypien des klassischen Balletts, und die immens engagierte Arbeit eines guten Ensembles. Es spricht für die Trierer Tanz-Truppe, dass sie diese, von der bisher am Theater praktizierten Ballett-Ästhetik um Welten abweichende Herausforderung meistert. Gulnara Soatkulova und Denis Burda brillieren als dem Tod entgegengesetztes junges Paar, Eduard Grinyuk zaubert einen eminent kraftvollen "M 3" (Mozart? Mensch? Mann?) auf die Bühne, Alexander Galitskii und Tina Goldin stehen den Gästen Mario Perricone (Tod) und Markus Heckel (M 1) um nichts nach. Natalia Burgos Marcia, Natalie Galitskii, Natalia Grinyuk, Hannah Ma, Ewa Malkiewicz, Veronika Zemlyakowa und Marat Rakhimow zeigen, welche Perspektive im Trierer Ensemble steckt. Das Publikum hört 75 pausenlose Minuten mit angehaltenem Atem zu, um am Ende fast eine Viertelstunde zu toben. Übertrieben? Nein: für Trierer Premieren-Verhältnisse muss man es wohl Toben nennen, wenn entfesselt geklatscht, gejohlt, gejubelt wird, immer neue Vorhänge gefordert werden - auch nachdem das Saallicht längst angegangen ist. Die nächsten Vorstellungen: 6., 12., 20. November.

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